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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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je mitfühlender Hilde zuhörte, desto mehr bröckelte ihre Fassade, und irgendwann fing sie bitterlich an zu weinen. Da nahm sie Hilde in den Arm und Lilly wusste, dass sie eine mütterliche Freundin gewonnen hatte, auch wenn sie nur ein paar Jahre älter war als sie.
    Später lag sie auf dem Sofa. Die Stimme, die zu ihr sprach, war fremd und gleichzeitig vertraut. Lilly kannte dieses Tor, das sich zu anderen Welten öffnete, von Ralfs spiritueller Lehrerin in Wien. Irgendwann hatte sie ihren Widerstand aufgegeben und war in den Außenbezirk gefahren, wo Irene lebte. Diese wunderbare Frau, die sie gestärkt und immer wieder getragen hatte, wenn die Bürde zu groß wurde. Sie verdankte ihr einen Großteil ihrer Stabilität. Und bevor sie die Augen schloss, schickte sie ihr einen innigen Gruß.
    Es waren klare Worte, die Hilde mit veränderter Stimme sprach. Lilly hörte, dass sie auf einer anderen Ebene, noch ehe sie geboren war, zugestimmt hatte, ihr Schicksal auf diese Weise mit Oskar zu verknüpfen. „Es ist alles im Plan. Dein Mann hat die Chance, im Gefängnis seine Persönlichkeit zu transformieren, und du, die du ihn dabei begleitest, wirst stark und gleichzeitig frei werden. Noch bist du abhängig von ihm, fast wie ein Hund, der seinem Herrn gehorcht.“
    Der Weg von Laboe zu dem kleinen Ort, der heute ihr Ziel war, führt immer am Wasser entlang. Lilly hatte sich am Nachmittag ein Rad gemietet und fuhr zu Anke. Sie hatte Oskar, Lilly und die Kinder vor zwei Jahren, ohne nach dem Grund zu fra­gen, aufgenommen. Das war damals, als sie an Ostern aus dem Appartement in Schilk­see flüchten mussten, weil die Medien erfahren hatten, dass er sich in Kiel versteckt hielt. Oskar und Niklas waren geblieben, und erst als die Termine mit den Anwälten immer dichter wurden und sein Sohn nach Wien zurückkehrte, hatte er in der Nähe der Innenstadt bei Frau Petersen ein Zimmer gemietet. Jetzt öffnete Anke die Türe und trug eines ihrer naturfarbenen Leinenkleider, unter denen sie je nach Jahreszeit nichts oder dünne Wollpullis trug. Im Wohnzimmer mit Blick in den verwilderten Garten fragte Lilly und nahm einen großen Schluck Tee aus der geblümten Tasse.
    â€žWie haben Oskar und Niklas hier gelebt?“ Anke sah sie mit einem prüfenden Blick aus ihren grauen Augen an, als ob sie sicher sein wollte, wie viel Wahrheit Lilly verkraften konnte. Dann antwortete sie. „Oskar war wie ein Mönch. Er trug meistens schwarze, einfache Hosen und T-Shirts aus Baumwolle. Sein Zimmer war karg eingerichtet und er kochte einfache, bescheidene Gerichte für sich und Niklas. Wenn er dann aus dem Haus ging, war er ein anderer. Als ob er dann seine zweite Persönlichkeit mit dem Anzug aus dem Schrank holte und sich in eine Scheinwelt begab, in der er seine Rolle spielte. Souverän, ein großer Mann von Welt.“
    â€žUnd wie war Niklas?“, fragte Lilly.
    â€žEr war viel zu erwachsen für sein Alter. Er fühlte sich für seinen Vater zuständig, und ich hatte das Gefühl, dass hier die Rollen vertauscht waren, obwohl er in dem Jahr, als er hier lebte, erst sieben wurde. Sein Vater war oft weg und ließ ihn bei mir. Wenn er dann allein einschlafen musste, kaute er an seinem Kissenzipfel, bis er durchgebissen war.“
    Lilly hörte zu und schämte sich nicht, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Anke hielt inne. „Ich sollte dir das nicht erzählen, du bist ohnehin so belastet.“ – „Bitte, sprich weiter“, antwortete Lilly und spürte, dass es Zeit war, auch diese Illusion zu beenden. Nicht nur Lea war belastet. Es gab keine glücklichen Kinder in dieser Inszenierung, auch wenn es bei ihrem Sohn manchmal so aussah.
    â€žOskar spielte viel mit Niklas. Aber es war auch so eine Art Überlebenstraining. Er brachte ihm bei, ganz schnell auf Bäume zu klettern, und der Junge trug immer einen Zettel mit deiner und Ralfs Telefonnummer bei sich. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass er sich sofort, falls die Polizei an der Tür läutete, verstecken und dann einen von euch anrufen sollte. Er liebte Bäume. Es machte ihm richtig Spaß, bis in die Kronen zu klettern. Er war wie ein kleiner Affe und ich hatte schon Angst beim Zusehen.“
    Lilly verstand plötzlich vieles. Die Kindergärtnerinnen hatten sich nach Niklas’ Rückkehr darüber beschwert, dass er immer

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