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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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nur in den Bäumen saß und nicht herunterkommen wollte, um mit anderen Kindern zu spielen.
    Lilly putzte sich die Nase und sagte leise: „Ich wusste das alles nicht.“ Anke sagte sanft: „Du wolltest es nicht wissen. Wir haben einmal miteinander telefoniert und ich habe dir gesagt, dass Niklas zu klein ist, um so ein Leben zu führen. Damals hast du mir geantwortet, dass Oskar seinen Sohn und sein Sohn ihn brauche.“ Lilly wusste, dass sie recht hatte, und nickte stumm.
    Es war längst dunkel, als sie, viel zu dünn angezogen, auf ­ihrem Leihfahrrad zurück nach Laboe fuhr. Die Kälte und die Einsamkeit krochen in ihren Körper und ihr Herz und sie sehnte sich verzweifelt nach ihren Kindern. Das Meer schickte ihr den Klang der Wellen als Trost und trug ein paar beleuchtete Schiffe wie glitzernde Schmuckstücke. Aber Lilly hatte die Verbindung zu ihm verloren und fühlte sich auf ihrem dunklen Weg entlang des Ufers bedroht. Hatte sie ihre Kinder verraten, um Oskar das Leben leichter zu machen? Sie mitgeschleppt auf seinen Fluchtwegen, ihren Sohn bei ihm gelassen, damit die Einsamkeit ihn nicht auffraß? Die Wesen schwiegen.
    Am nächsten Tag war alles getan, was sie tun konnte. Oskar hatte ein Konto im Gefängnis, die Dinge des Alltags waren vom Richter bewilligt worden und schon in seiner Zelle, die Anwälte hatten ihr die nächsten Schritte erklärt. Ihr Mann würde bis zum Prozess in U-Haft bleiben müssen und wie lange das dauerte, wagten sie nicht einmal zu schätzen. Lilly lag wach im Nachtzug nach Wien. Ihr Auto fuhr auf einem Güterwaggon mit ihr und morgen Abend würde sie ihre Kinder im Arm halten. Ihre Mutter hatte sich bereit erklärt, sie nach Wien zu bringen.
    Das Rattern des Zuges mischte sich mit ihren Gedanken, die immer nur um eines kreisten: Oskar und die Kinder. Mitten in der Nacht setzte sie sich auf und holte ihr Tagebuch heraus.
    14. März 1991
    Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich weiß nicht, ob er nur ein paar Monate in diesem roten Backsteinhaus in einer Zelle auf seine Freiheit warten wird oder ein paar Jahre. Wie viele Jahre? Ein ganzes Leben lang?
    Heute haben wir uns das erste Mal umarmt. Wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald. Ich bereue jede Minute, in der ich Oskar in diesen drei Tagen nicht berührt, nicht geküsst habe. So viel vergeudete Zeit. Als unser Panzer bricht, ist uns der Beamte plötzlich egal. Unsere Hände zittern, als wir einander streicheln und Worte stammeln, die wir schon lange nicht mehr ausgesprochen haben. Ist es normal, dass ich meine Liebe am meisten spüre, wenn sie wehtut?
    Die Zeit zwischen den Besuchen nütze ich für Einkäufe. Hilde schleppt mich durch die Sophienhöfe wie ein kleines Kind, das man an der Hand nehmen muss. Wasserkocher grün oder weiß? Pyjama aus Baumwolle oder mit Kunstfaser gemischt? Joggingschuhe blau oder schwarz? Ich sage mit Watte im Kopf Ja und Nein und bin froh, dass alles, wozu ich keine sichere Meinung habe, von ihr entschieden wird. Ihr herzliches Lachen ist mein einziger Trost, und als sie sagt: „Ich muss wohl in einem früheren Leben deine Mutter gewesen sein“, und ihren Arm um meine Schultern legt, fühle ich mich nach langer Zeit wieder für einen Moment geborgen.
    Dann kommt der Besuch beim Richter. Ich bereite mich vor und ziehe meinen Panzer und ein schwarzes, elegantes Kostüm an, das ich mit Hilde im Sophienhof gekauft habe. Es wird mich daran erinnern, dass wir geschäftlich reden. Sein Geschäft sind die Gefangenen in der Untersuchungshaft. Er kann ihnen das Leben leicht oder schwer machen, ganz wie er will, im Rahmen der Gesetze.
    Am Anfang ist er streng. Er sagt mir, dass viele Gefangene ihre Familien öfter sehen wollen, dass zwei Stunden im Monat die Regel sind, dass Ausnahmen zur Unruhe im Gefängnisalltag führen. Seine Stimme klingt abwehrend unter seiner Sachlichkeit. Ich verstehe, dass er längst immun ist gegen das Leid der Angehörigen, sonst könnte er seine Arbeit nicht ertragen. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu weinen und meine wohlgesetzten Worte mit Hilde trainiert. Aber dann sage ich die Namen meiner Kinder und ein Sturzbach rinnt aus meinen Augen: „Sie müssen Lea und Niklas öfter zu ihrem Vater lassen. Ich kann es nicht ertragen, dass ihre Seelen noch mehr Schaden nehmen, als sie ohnehin schon zu verkraften haben. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn ich mit

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