Lillys Weg
umarmte und ihr ein Bett für die Nacht anbot. âMeine Wohnung ist viel zu groà für mich, seit mein Mann weg ist. Wenn Sie mögen, kommen Sie vorbei.â
Ein Beamter öffnete die Tür, als Lilly um Punkt vierzehn Uhr läutete. Er erkannte sie sofort.
âWarten Sie einen Augenblick.â Dann rief er in den Hintergrund: âFrau Baldini steht an der Pforte.â Lilly wunderte sich nicht. Das berühmte Foto, das vor dem Gefängnis in Wien aufgenommen worden war, war auch in den Kieler Zeitungen aufgetaucht.
Den Rest des Rituals erlebte sie wie in Watte gepackt. Sie gab ihren Pass ab, wurde von einer Beamtin nach gefährlichen ÂGegenständen durchsucht und in einen Raum geführt, in dem schon andere Frauen warteten. Sie sperrte ihre Handtasche ÂvorschriftsmäÃig in eines der SchlieÃfächer ein und behielt nur eine Packung Tempotaschentücher und die Tafel Schokolade bei sich.
Die Handschellen klickten, der Wachvollzugsbeamte führte Oskar aus dem Besprechungszimmer, in dem Lilly eine halbe Stunde zugebracht hatte. Sie folgte ihm auf den schmalen Gang und schaute ihm nach, bis er hinter einer weiÃen Gittertür verschwand. Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zaghaft zu.
Lilly spürte, wie die Beine ihr versagten und lieà sich wieder auf den einfachen Holzstuhl fallen. Das mühsam aufrechterhaltene Lächeln, mit dem sie ihrem Mann Mut machen wollte, zerbrach wie eine Maske aus Ton, die unter zu viel Spannung litt.
Sie starrte stumm auf den Heizkörper, dessen Lack an einer Stelle abgeschlagen war, als hätte jemand verzweifelt dagegen getreten, und spürte die Starre, die verhinderte, dass sie ihre Âeigenen Gefühle wahrnehmen musste. Als sie den Blick hob, sah sie zum ersten Mal den grauen, kleinen Hof, den ein Gefangener gerade kehrte. In der Ecke standen die Mülltonnen und unter den vielen vergitterten Fenstern, die den Himmel in Streifen schnitten, standen auf der Mauer in weiÃer Farbe groÃe Zahlen. Vielleicht die Nummern der Zellen.
Dann hörte sie die Stimme des Beamten im Gang, die einem Kollegen in norddeutschem Dialekt zurief: âDu kannst Frau Baldini wieder abholen.â
Lilly spürte die Blicke der Frauen auf sich, als sie im Warteraum ihre Tasche aus dem SchlieÃfach holte. Es waren andere Frauen als vorher. Sie redeten nicht und starrten bedrückt vor sich hin. Als sie den beiden Kindern, die sich stumm an ihre Mutter ankuschelten, ihre Tafel Schokolade schenkte, die sie Oskar nicht hatte geben dürfen, spürte sie zum ersten Mal ihr Herz. Wund und erschüttert. Lea und Niklas. Bald würden sie hier mit ihr sitzen.
Bevor ihr die Tränen kamen, war der Beamte wieder da. Vorbei an der Pforte, wo zwei andere Beamte sie höflich grüÃten und versuchten, ihre Neugierde zu verbergen. Da ging die Frau des Mannes, der angeblich den Tod von mehreren Seeleuten mitverursacht hatte. Groà und schlank, mit einem weiÃen, blanken Gesicht, in dem sie nichts lesen konnten. Sie war etwas Besonderes. Das spürte sie. In diesem Gefängnis wurden meistens Diebe und andere âKleinverbrecherâ verwahrt. Angesehene Bürger der Oberschicht, die in einen spektakulären Fall verwickelt waren, sah man hier selten.
Vor dem Tor aus Eisen, das sich hinter ihr schloss, schien die Sonne, als ob im Himmel und auf der Erde alles in Ordnung wäre. Lilly stand wieder vor dem Haus aus rotem Backstein. Allein. Sie sah noch einmal auf die kleinen, vergitterten Fenster. Hinter einem dieser Gucklöcher lebte jetzt Oskar. Sie ging wie eine alte Frau, mit schleppenden Schritten, den Schützenwall entlang Richtung Sophienhöfe.
Frau Hansen, die Anwältin, war entsetzt, als sie Lilly sah. Ihr Gesicht war weià wie eine Wand und sie sah völlig erschöpft aus. âUm Gottes willen, kommen Sie sofort mit, Sie müssen jetzt erst einmal was essen!â Sie nahm ihren Mantel, packte die Frau ihres Mandanten am Arm und führte sie in ein Restaurant, in dem es einen Steaktoast auf Salat gab. Sie war eine empathische und gleichzeitig sehr energische Frau, nur ein paar Jahre älter als LilÂly, und kam, nachdem sie ihr zugehört hatte, ohne Umschweife zur Sache.
âDie Optik ist furchtbar. Die österreichischen Gerichte haben im wahrsten Sinn des Wortes einen kurzen Prozess gemacht. Paolo Vicente ist verurteilt worden, kein Gericht der Welt
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