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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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einzige Gast und der Kellner, der gerade ankam, um sie zu unterhalten, zog sich wieder hinter die Bar zurück.
    Kiel, 12. März 1991
    Ich werde morgen im Gefängnis nicht weinen. Ich erlaube, dass ein Panzer um mein Herz wächst, und ich bin dankbar dafür. Ich sehe das Bild des Roboters aus Metall vor mir, den Niklas von seiner Großmutter zu Weihnachten bekommen hat. Man kann ihn aufziehen und er läuft.
    Ich spüre noch jetzt diesen Moment, als ich an der Pforte der Justizvollzugsanstalt läute. Die Welt, in der Kinder ihr erstes Eis essen, Paare auf Parkbänken in der Sonne sitzen, Hosenbeine beim Radfahren hochgekrempelt werden, Menschen mit Aktentaschen zum Mittagessen gehen oder vor dem Supermarkt parken, um ihre Einkäufe zu erledigen, endet hier.
    Ich sperre meine Tasche in eines der Schließfächer und sitze mit der Schokolade für Oskar in der Hand einfach nur still da. Mein Kopf ist leer. Ich darf nicht daran denken, was es bedeutet, dass ich hier warte.
    Ich versuche, zu beten. Ich brauche die Unterstützung der Wesen, wenn ich Oskar begegne. Aber es ist schwer. Mein Schutzpanzer schließt alles aus, auch die Hilfe von oben.
    Dann kommt endlich der Beamte und holt mich ab. Er sieht die Tafel Schokolade in meiner Hand und sagt freundlich: „Die dürfen Sie leider nicht mitnehmen, das geht nur mit richterlicher Bewilligung.“ Er zeigt auf einen Automaten: „Hier können Sie sich aus einem der Fächer Süßigkeiten ziehen.“ Ich starre auf Schokoriegel und Nussschnitten und begreife kaum, dass von nun an neue Regeln gelten.
    Oskar wartet schon in dem kleinen Raum. Ich sehe, dass sein Kiefer so angespannt ist, als hätte er eine Staumauer aus Beton errichtet, damit seine Mimik nicht entgleist. Auch er will nicht weinen. Nicht vor diesem Beamten, der jede Bewegung mit seinen wachsamen Augen aufzeichnet. Wir sitzen einander gegenüber. Der kleine Tisch aus Holz ist nicht die Barriere, die uns trennt. Es ist unsere Furcht, dass wir zerbrechen, wenn wir unsere Verzweiflung zulassen. Nach einer Weile hebe ich vorsichtig meine Hand und berühre Oskars Gesicht. Der macht eine kleine Bewegung nach hinten, entzieht sich mir und sagt leise: „Bitte nicht.“
    Lilly erwachte aus einem tiefen Erschöpfungsschlaf und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Erst als ihr Körper sie daran erinnerte, dass ein schwerer Druck auf ihr lastete, kamen mit einem Schlag alle Bilder zurück. Oskar im Gefängnis. Seine Verzweiflung und ihre Verzweiflung, die sich verbanden und als dunkle Schicht über ihrer Begegnung lagen. Kein Kontakt. Sie nahm das Wort in die Hand und zerlegte es – Kon-Takt, im Takt. Ihr Leben war völlig aus dem Takt geraten.
    Als Lilly am Morgen das Hotel verließ, lag eine dichte Wolkendecke über der Kieler Förde. Das passte besser zu ihrer Stimmung als dieser blanke, blaue Himmel, der seit Tagen über ganz Europa gestrahlt hatte. Sie fuhr in ihrem Cabrio am Meer entlang und hatte doch keinen Blick für die weißen Ozeandampfer, die die Stadt wie Wahrzeichen schmückten, weil der Krieg wenig interessante Gebäude übrig gelassen hatte.
    In wenigen Minuten würde sie vor der Justizvollzugsanstalt aussteigen müssen. Wie sollte sie Oskar gegenübertreten? Es war ein Privileg, dass ihr ein zweiter Besuch gewährt wurde, weil sie mehr als tausend Kilometer angereist war, aber es war gleich­zeitig auch eine Last. Sie sehnte sich nach Ella, Ralf und Johanna und spürte ihre Einsamkeit, die in dem Hohlraum in ihrem Magen saß.
    Sie wollte mit aller Gewalt frühstücken, aber als sie vor dem kleinen Buffet stand, war der Brechreiz aus Nervosität stärker als ihre Disziplin. Wenn Lilly ganz verzweifelt war, sprach sie laut mit sich selber, als ob sie sich an ihrer eigenen Stimme festhalten könnte: „Ihr Wesen, bitte helft mir, ich brauche jemanden, der mich unterstützt, ich schaffe das hier nicht allein.“
    Plötzlich sah sie Hilde Klar vor sich. Sie hatte sich ihren Nachnamen bei dem Traumaseminar in Frankreich sofort gemerkt, weil sie es witzig fand, dass eine Bewusstseinstrainerin die Klarheit in ihrem Namen trug. Hilde war die zweite Frau, mit der sie in Lyon die Adresse getauscht hatte. Aber das Leben war schnell und Kiel für ein Wiedersehen zu weit weg. Sie hatten noch ein- oder zweimal miteinander telefoniert und dann war der Kontakt eingeschlafen.
    Lilly

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