Lillys Weg
wird sich jetzt trauen, Ihren Mann so einfach aus der U-Haft zu entlassen. Die deutschen Behörden haben von ihren Kollegen in Wien Tonnen von belastendem Material übernommen.â
Lilly hatte längst auf Durchzug geschaltet und ihre bewährte Schutzmauer hochgezogen. Sie kehrte erst zurück, als Frau Hansen mit Paolos und Oskars angeblichem Sündenregister fertig war, und sagte: âWir werden alles tun, um ihm zu helfen. Aber wir brauchen Zeit. Sie müssen sich auf eine längere Haft einrichten.â Lilly fragte nicht, was âlängerâ bedeutete, bedankte sich bei der engagierten Anwältin und ging. Wie betäubt lief sie die StraÃen entlang, die von nun an zu ihrem Alltag gehören würden, zu Fuà zurück zur Justizvollzugsanstalt. Dann saà sie eine Stunde lang einfach still in ihrem Auto und war dankbar für den Geruch der roten Ledersitze. Es war im Augenblick das einzig Vertraute in ihrem Leben. Auf der kurzen Strecke zum Kronshagener Weg, wo Frau Petersen, bei der Oskar ein Zimmer gemietet hatte, wohnte, verfuhr sie sich dreimal und läutete dann erschöpft an der Tür.
Wasserblaue, fast kindliche Augen, umrahmt von sorgfältig Âfrisierten grauen Locken, sahen sie mitfühlend und gleichzeitig fragend an. Lilly spürte die Sorge der alten Dame, die auf die achtzig zugehen musste. Ihre Starre löste sich in einer Tränenflut auf und sie weinte in den Armen dieser GroÃmutter, die ihre Âeigene hätte sein können, und die ihr hilflos den Rücken tätschelte.
Heide Petersen war praktisch veranlagt. Sie kochte ihr einen starken Kaffee und zwang ihr ein Stück selbst gebackenen Streuselkuchen auf. Dann bot sie ihr das Du an und fragte mit leiser Stimme, wie es Oskar ging. âBeschissenâ, hätte Lilly antworten müssen. Aber sie sah die Angst um ihn in den Augen der alten Frau und sagte: âDen Umständen entsprechend gut.â
Heide Petersen nickte erleichtert. Sie hatte ihren Untermieter, diesen Mann, der durch eine Zeitungsannonce in ihr Leben geschneit war, in ihrer eigenen Einsamkeit adoptiert. Jetzt adoptierte sie Lilly und bot ihr freizügig ihr Telefon an.
Ella hob sofort ab. Es tat gut, ihre vertraute Stimme zu hören, und als Lilly wieder auflegte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Heide zeigte ihr das Zimmer und schloss diskret die Tür hinter sich. Es roch nach Oskar. Nach seinem Aftershave und so, wie er eben roch. Unverwechselbar. Seine Anzüge und eine braune Lederjacke hingen im Schrank und in den Regalen lagen fein säuberlich nach Farben sortiert seine Hemden und Pullover. Lilly nahm seinen Pyjama, der auf dem Bett lag, und verbarg für einen Augenblick ihr Gesicht darin. Dann ging sie entschlossen ins Wohnzimmer zurück.
âIch kann hier heute nicht schlafen, ich muss in die Natur.â Ella hatte recht. Wenn sie jetzt irgendwo gut aufgehoben war, dann am Meer. Eine Stunde später stand Lilly an der Steilküste der Kieler AuÃenförde. Es war immer noch überraschend warm für einen Tag im März. Sie hatte ihr Auto in Laboe, dem kleinen Ostseebad, vor einem unauffälligen Hotel am Ortsrand abgestellt, ein Zimmer genommen und, ohne ihr Gepäck auszuladen, nur den Zimmerschlüssel, ihre Handtasche und die geblümte Decke mitgenommen.
Sie sah den letzten schmalen Sonnenstreifen zwischen Schilksee und Strande auf der anderen Seite der Förde versinken und ging oben auf den Klippen den schmalen Pfad weiter nach Stein. Sie kannte die Gegend. Hier war sie mit Oskar und den Kindern manchmal mit dem Rad hergefahren. Damals hatten sie immer in den Sanddünen Rast gemacht.
Lilly fand die Stelle wieder und breitete ihre geblümte Decke aus. Sie legte sich mit einem tiefen Seufzer hin und spürte zum ersten Mal an diesem Tag ihren geschundenen Körper. Fünfhundert Kilometer Autobahn, emotionaler Super-GAU, wenig Essen. Sie streckte sich bewusst, dachte an das Moosbeet, in dem sie mit Ella auf dem Weg zum Hirschberg vorgestern noch so unbeschwert gewesen war, breitete ihre Arme und Beine aus und hörte den Wellen zu. Sie erzählten ihr, dass dieser Augenblick nur ein kleiner Tropfen im Ozean war. Vergänglich.
Es war schon dunkel, als sie wieder in Laboe ankam und sich in das einzige noch geöffnete Lokal in der Nähe des Hotels setzte. Sie bestellte ein Glas Wein, Tortellini mit Pilzfüllung und holte ihr Tagebuch heraus. Sie war der
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