Lillys Weg
ihnen zwölfhundert Kilometer fahre, damit sie ihn sehen können?â Ich fühle mich schwach und stark zugleich. Wie eine verwundete Löwin, die um das Leben ihrer Jungen kämpft. Meine Entschlossenheit ist so stark, ich würde sofort vor dem Gefängnis in Hungerstreik treten, damit er nachgibt.
Wir dürften Oskar in den Sommerferien jeden zweiten Tag besuchen, sagt der Richter plötzlich mit gütiger Stimme und ich muss mich zurückhalten, damit ich ihm nicht vor Erleichterung um den Hals falle, als er mich zur Tür begleitet.
Lea und Niklas. Ich sehne mich danach, sie im Arm zu halten, und gleichzeitig habe ich Angst davor. Sie waren glücklich auf dem Vorsäà mit ihrer GroÃmutter und Ella. Sie wissen nicht, dass ihr Vater verhaftet wurde. Heute Abend muss ich ihnen die Wahrheit sagen.
Der Zug mit den Kindern aus Bregenz hatte Verspätung. Lilly tigerte am Bahnsteig auf und ab wie ein gereiztes Tier im Käfig. Sie übte Sätze ein und verwarf sie wieder. Wie sagt man Kindern, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt und niemand weiÃ, wann er wieder frei sein wird? Die Angst, dass die deutsche Gerichtsbarkeit sich der österreichischen anschlieÃen könnte, lebte in ihr wie ein ungebetener Gast, der sich weigerte, das Haus wieder zu verlassen.
Sie holte sich eine Tasse Kaffee am Buffet, und dann sah sie den Galeriebesitzer, der so gern Gast bei Paolos Festen gewesen war. Er kam mit einem groÃen Koffer auf sie zu und Lilly war so froh, jemanden Vertrauten zu sehen, dass sie schon von Weitem winkte. Er runzelte die Stirn, änderte die Richtung und steckte sein Gesicht ganz tief in die Auslage des Zeitungskiosks. Für Âeinen Augenblick erlaubte sie sich den Gedanken, dass er ihr nur zufällig ausgewichen war. In diesem Augenblick hob er seinen Kopf, ihre Augen trafen sich für eine Sekunde, und dann schaute er wieder weg.
Das war es also, was sie jetzt erwartete. Noch mehr als vorher. Paolos Stern war endgültig untergegangen â und mit ihm Oskars. Die Freunde von damals trafen eine neue Wahl: mit dem Strom der Verurteilung oder gegen den Strom. Bleiben Freunde nicht Freunde?
Als der Zug aus Bregenz einfuhr, steckte Lilly alle düsteren Gedanken weg und stand am Bahnsteig, die Arme weit ausgebreitet. Lea und Niklas liefen auf sie zu, die kleinen Rucksäcke wippten auf ihrem Rücken, in der Hand hielten sie ein buntes Windrad und riefen: âMami, Mami, Mami!â
Im Hintergrund sah sie, als sie ihre Kinder umarmte, aus den Augenwinkeln ihre Mutter. Mit einem ernsten, sorgenvollen Gesicht. Sie hatte offensichtlich für einen Augenblick vergessen, dass sie sich verstellen wollte.
âIch kann von ihr nichts erwartenâ, murmelte Lilly. âSie muss ich nun auch trösten.â
15. März 1991
Sie schlafen. Niklas mit dem Kissenzipfel im Mund, wie es Anke mir erzählt hat. Ich kenne ihn so nicht. Leas Gesicht ist selbst im Schlaf nicht entspannt. Sie hat, als ich mit ihnen auf dem weiÃen Sofa sitze und ihnen die Wahrheit sage, sofort nach der Hand ihres Bruders gegriffen, als ob sie es wäre, die ihn schützen muss. Sie haben beide nicht geweint. Sie wissen, dass es für mich schlimm ist, ihre Tränen zu sehen. Ich wünschte, sie könnten ihr Entsetzen zeigen, und gleichzeitig weià ich, dass es mir das Herz brechen würde. Wir spielen einander alle etwas vor. Auch meine Mutter. Sie ist tapfer und verständnisvoll und versucht mich zu umarmen, als die Kinder im Bett sind. Ich empfinde ihre Berührung als Last, als etwas, was mich noch mehr Kraft kostet. Ich sehne mich nach meinen Freunden.
Es läutet an der Tür. Ralf ist da. Endlich. Ich lege mich in seinen Arm wie ein verlassenes Kind. Meine Mutter ist eifersüchtig: âDann kann ich ja ins Bett gehen, wenn du mich nicht mehr brauchst.â Ich weiÃ, dass es ungerecht ist, sie tut ihr Bestes. Aber ich bin froh, als sich die Tür hinter ihr schlieÃt.
âDu hast es immer gewusstâ, sage ich in seine weiche Brust hinein und weine sein Hemd nass. âJa.â Er sagt es so, dass das kleine Wort die ganze Geschichte der letzten Jahre erzählt. Ich frage ihn nicht, ob er Oskar für unschuldig hält. Ich will seine Wahrheit nicht wissen. Es genügt mir, dass er mich liebt und zu mir hält.
17. März 1991
Ich feiere meinen Geburtstag nicht. Es gibt nichts zu feiern. Am liebsten würde ich im Bett liegen
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