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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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Konditorei Fidler. Ein idyllischer Urlaubstag am Meer.
    â€žJetzt spielen Sie mal mit ihnen“, sagt einer der beiden Beamten nach einer Weile zu Oskar. „Aber laufen Sie nicht weg, sonst kommen wir in Schwierigkeiten.“ Lea und Niklas holen sofort ihren Ball und stürmen an den Strand, Oskar zögert einen ­Augenblick, dann zieht er sein Hemd aus und läuft ihnen nach. Er dreht sich noch einmal nach mir um und winkt mir zu. Ich registriere seinen weißen Oberkörper, der so lange keine Sonne gesehen hat, und verdränge meine Trauer, als ich das Loch sehe. Sein Brustkorb ist eingefallen, weil sein Herz so verhungert ist.
    Die Justizvollzugsbeamten meinen es gut: „Sie können ruhig mitgehen, wir brauchen Sie nicht als Pfand.“ Dann spielen wir zu viert Ball am Strand. Wie eine glückliche Familie. Die Kinder machen das besser als ich. Sie leben einfach diesen Moment und kosten ihn aus. Papa, Papa, Papa … Im Sand, im Wasser, im ­Augenblick.
    Wieder eine neue Szene: Oskar vor Gericht. Er trägt sein verschlossenes Gesicht wie eine Maske vor sich her. Nur manchmal, wenn er zu mir herüberschaut, werden seine Augen warm. Sein Kiefer bleibt steif. Er muss sich vieles anhören, was furchtbar klingt, und ich leide mit ihm.
    Wenn die Verhandlung zu Ende ist, führen sie ihn hinaus. In seinem schwarzen Anzug mit dem weißen Hemd sieht er noch immer aus wie damals, als wir verliebt waren. Aber sein Haar ist weiß geworden, und ich spüre seine Angst und die Demütigung.
    Meine inneren Bilder werden unterbrochen. Der Beamte kommt und holt mich und die anderen Frauen ab. Sie haben mich einfach weinen lassen und mir ein Taschentuch zugesteckt. Man kennt mich hier. Es gibt nur wenige, die so viele Jahre zu Besuch kommen müssen.
    Ich habe um einen Einzelbesuch gebeten. Oskar ist reserviert. Wir sind allein. Es besteht keine Verdunkelungsgefahr mehr, das Urteil ist gesprochen.
    Jetzt soll ich mein Urteil sprechen.
    Mein Mann, der es bald nicht mehr sein wird, macht es mir leicht: „Sag es mir, Lilly, es steht dir ins Gesicht geschrieben. Du warst immer schon eine schlechte Lügnerin. Und weil du so schlecht lügst, weiß ich schon lange, worum es geht.“
    Sein Kiefer ist hart wie Beton.
    Ich kann nicht sagen, dass ich ihn nicht mehr liebe. Weil es nicht stimmt. Es gibt unsere Liebe. Es gibt auch eine Verbundenheit. Von Wesen zu Wesen, aber nicht mehr von Frau zu Mann.
    â€žOskar, ich verlasse dich.“
    Der Satz knallt aus meinem Mund heraus, ganz ohne die mildernden Worte, in die ich ihn verpacken wollte. Der Schock, dass ich ihm diese Wahrheit zumute, geht wie eine Welle durch meinen Körper und macht dann der Erleichterung Platz. Das Unsägliche ist gesagt. „Palabras concientes“, bewusste Worte, das ist meine Aufgabe in diesem Leben, hat eine brasilianische Schamanin mir gesagt. Jetzt ist es so weit.
    Oskar nickt, und als ich sein Gesicht berühren will, weil es gleichzeitig wahr ist, dass es eine Ebene gibt, auf der ich ihn immer lieben werde, zuckt er zurück.
    Ein letztes Mal sehe ich ihm nach, als der Beamte ihn durch den langen, schmalen Gang zurück in seine Zelle führt.
    Wenn er dieses Gefängnis verlassen wird, werden seine Kinder erwachsen und ich nicht mehr seine Frau sein.

    13 Die Bärenhöhle hinauf, bei den Felsen oben eine Geiß geschossen.

Epilog
    Während ich noch überlegte, ob es ein autobiografischer Roman werden soll und welche Zeitstruktur für dieses Projekt notwendig ist, kam Lilly zu mir.
    Sie stellte sich mit ihrem Namen vor und begann einfach zu erzählen. Sie kümmerte sich nicht um die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion und nahm sich aus meiner Geschichte, was ihr gefiel. Sie führte von der ersten Sekunde an ein Eigenleben, begleitete mich durch meinen Tag, weckte mich meistens in der Nacht und sprang in jede Lücke, die ihr mein enger Termin­kalender bot. Meine Versuche, sie zu „zivilisieren“, nahm sie mit einem Lächeln zur Kenntnis und hielt sich selten daran. Sie erzählte, wo sie wollte, wann sie wollte, nahm Ereignisse aus der Gegenwart und holte sich vieles aus der Vergangenheit. Der Rest kam von irgendwo im Universum. Ich hatte ständig das Gefühl, dass sie vor mir herlief und ich ihr hinterherjagte. Sie bestand darauf, dass sie in einer Zeit geboren war, in der Frauen noch viel weniger Rechte und Möglichkeiten hatten als heute.

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