Lillys Weg
dem wir essen können. Es rührt mein Herz, dass sie so kindlich und gleichzeitig so ernst sind. Vor allem Lea. Ich muss ihnen die Wahrheit sagen. Ich erzähle den beiden, dass die Menschen glauben, der Papa habe ein Schiff in die Luft gesprengt, und dass das nicht wahr ist. Dass er sich verstecken wird, bis er alles aufklären kann, und wir darüber froh sein müssen. Die Kinder nicken. Sie glauben mir. Ich bin ihre Mama. Die einzige Sicherheit, die sie jetzt noch haben.
In dieser Nacht ging Lilly in ihr Schlafzimmer, wo jetzt statt Oskar die beiden Kinder lagen, und nahm sie in den Arm, ohne dass sie erwachten. Sie waren wie eine kleine Herde, die sich im Sturm zusammendrängt. Doch gegen Morgen, als sie endlich auch eingeschlafen war, kam der Albtraum: Sie ging mit Lea und Niklas durch eine Stadt, die ihr fremd war. Sie hatten einen schwarzen Hund dabei, der sich plötzlich losriss und auf eine stark befahrene StraÃe lief. Sie lief hinter ihm her, und als das Auto sie erfasste, wusste sie, dass sie sterben musste. Sie schrie: âBitte nicht, bitte nicht, ich muss für meine Kinder sorgen, sie haben niemanden!â
Am Morgen zog Lilly als Erstes entschlossen die Bettwäsche ab. Sie glaubte daran, dass Materie Energie speichern kann, und beschloss, den Traum einfach wegzuwaschen. Doch er blieb.
Beim Frühstück sagte Lea: âMama, wo gehen wir hin, wenn dir etwas passiert? Können wir dann zur Oma?â Sie nahm ihre Tochter in die Arme und sagte beruhigend: âMir passiert nichts, aber selbst wenn es so wäre, der Bregenzerwald wird immer ein gutes Zuhause für euch sein.â
Im Büro wartete Ralf schon auf sie und brachte ihr Kaffee: âRalf, ich habe Angst um die Kinder. Wenn mir etwas passiert, müssen sie sofort jemanden haben, der sich um sie kümmert. Meine Mutter ist so weit weg, es vergeht fast ein Tag, bis sie hier sein kann.â Ralf nahm sie in die Arme: âDu weiÃt, dass ich Âimmer für sie da bin. Bleib du besser am Leben!â Lilly nickte dankbar, aber die Sorge blieb. Sie war seit gestern eine alleinerziehende Mutter.
Das Tagebuch wurde von nun an ihr Ventil. Sie hatte Ralf, dem sie alles erzählen konnte. Doch gleichzeitig waren die Abende und Nächte viel zu lang. Wie konnte sie schlafen, wenn Oskar irgendwo da drauÃen war? Einsam und voller Angst.
15. Februar 1988
Die Leute fangen an, nach Oskar zu fragen. Ich erzähle ihnen von einer Geschäftsreise nach England und habe inzwischen Nachricht aus Italien. Er ist bei Freunden in der Nähe von Rom. Gott sei Dank! Ich kann ihn jeden zweiten Tag anrufen. Von nun an trage ich ganze Säcke mit Kleingeld mit mir herum. Ich habe mich letzte Woche zur Elternvertreterin wählen lassen, es fällt nicht auf, wenn ich für eine Weile im Lehrerzimmer verschwinde. Lea geht seit September in die erste Klasse der Volksschule um die Ecke. Der Direktorin, einer weisen, älteren Frau, fehlen nur noch wenige Jahre bis zu ihrer Pensionierung. Als Oskar vor drei Jahren das erste Mal in U-Haft war, hatte sie mich um ein Gespräch gebeten und die Tür zu ihrem Büro hinter sich abgesperrt: âSie können auf mich zählen. Wenn Sie jemals etwas brauchen, und sei es noch so ungewöhnlich, ich helfe Ihnen. Mein Bruder war einige Jahre im Gefängnis, weil er auf die schiefe Bahn geraten ist. Ich weiÃ, wie man sich in so einer Lage fühlt.â
Im Lehrerzimmer gibt es erstaunlicherweise eine Telefonzelle, die ein dankbarer Vater, Beamter bei der Post, installiert hat. Wenn alle Lehrer kurz vor acht Uhr in ihre Klassenzimmer Âgehen, rufe ich Oskar an. Dann hebt seine italienische Jugendfreundin ab. Es ist Jahrzehnte her, es führt keine Spur zu ihr. Im Augenblick fühlt er sich in dem kleinen Dorf in der Nähe von Rom sicher.
Es gibt noch immer keinen Haftbefehl. Meine Nerven liegen blank. Ich warte darauf und hoffe gleichzeitig, dass das Ganze ein Irrtum war. Ich muss mich unauffällig bewegen, kann nur vorsichtig Kontakt zu den Anwälten halten und versuche mit viel Disziplin, weiterzuarbeiten.
Jeden Morgen, wenn die Kinder in der Schule und in der Kindergruppe sind, sitze ich pünktlich um neun in der Redaktion. Ich muss dringend schreiben, aber die Sätze wollen nicht aus meinem Kopf, ich kann mich nicht konzentrieren. Ich meide Kontakte, so gut es geht. Keine Pressekonferenzen, kein Besuch von Lokalen, keine Spaziergänge durch
Weitere Kostenlose Bücher