Lillys Weg
für einen Monat mit Chris durch die Finnische Seenplatte, weil dort weniger Menschen waren.
Ralf zögerte keine Sekunde: âIch bringâ ihn dir vorbei.â Was sie an ihm besonders schätzte, waren seine klaren Handlungen. Er fragte nicht, warum, er fragte nicht, wann, er sagte nicht, dass es ihm schwerfiel, seinen geliebten Fridolin herzuleihen. Lilly hatte inzwischen Kaffee gekocht. Die beiden Männer umarmten einander, und sie spürte erleichtert, dass jetzt, in der gröÃten Not, endlich Verbindung entstand. âDu kannst auf mich zählenâ, sagte Ralf, nachdem er Oskars Geschichte gehört hatte, und Oskar nickte dankbar.
Lea und Niklas wachten kurz auf und schliefen weiter, als ihr Vater sie im Campingbus wieder ins Bett legte. Lilly hatte ein paar Sachen eingepackt und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie fuhren kurz bei seiner Wohnung vorbei, und er holte seinen schon gepackten Koffer. Auf der Südautobahn atmeten sie auf. Niemand hatte sie gesehen. Jetzt fuhr ein harmloses Urlauberauto, ein Mann und eine Frau mit zwei Kindern, in die Karnischen Alpen zum Skiurlaub. Auf dem Weg durch das Land Kärnten, das noch im Dunkeln lag, sprachen sie von ihrer Liebe, von einer Zukunft, in der sie wieder zusammen sein würden, und über die Gefahr: âSie werden dich verhören, sie werden dich überwachen, sie werden dich verfolgen. Du musst vorsichtig sein.â
Lilly kannte Tarvis, den Ort an der österreichisch-italienischen Grenze, von ihren Besuchen auf dem âFetzenmarktâ. Hierher war sie mit ihren Studienfreundinnen aus Innsbruck am Wochenende zum billigen Einkaufen gefahren. Jetzt stand sie mit Oskar und den Kindern am Bahnhof. Lea umklammerte ihren Vater und presste ihren Kopf an seinen Körper, Niklas hatte den Daumen im Mund und saà auf seinem Arm, obwohl er dafür eigentlich schon zu schwer war. Es war noch ruhig, der Zug fuhr erst in einer halben Stunde. Sie hatten sich zunächst in den Warteraum gesetzt. Aber er stank nach ungewaschenen Menschen und altem Rauch. âIch komme bald zurück, meine SüÃenâ, er küsste seine Kinder immer wieder und wiederholte den Satz mit beschwörender Stimme, als ob er dadurch wahr werden könnte. Lea nickte verständnisvoll, aber Niklas mit seinen viereinhalb Jahren versteckte seinen Kopf im Mantel seines Vaters und weinte leise vor sich hin: âPapa dableiben, Papa dableiben.â
Dann kamen plötzlich die Skifahrer. Sie stiegen aus zwei ÂAutobussen und verwandelten den Bahnsteig in eine Materialschlacht. Ski, Stöcke, Rucksäcke, Imbisspakete, Thermoskannen und fröhliches Gelächter. Und plötzlich gab es zwei unterschiedliche Welten. Die eine, in der das Lachen wohnte, und die andere, in der Angst und Verzweiflung zu Hause waren.
Lilly saà auf ihrem weiÃen Sofa. Lea und Niklas schliefen im Kinderzimmer. Ralf war nach ihrer Rückkehr sofort vorbeigekommen und hatte sie eine Weile einfach im Arm gehalten und ihr zugehört. Jetzt war sie allein und holte das dicke Tagebuch mit dem roten Ledereinband aus seinem Versteck hinter den Reservekopfkissen für Gäste. Ella hatte es ihr zur Hochzeit geschenkt. âDamit du deine vielen glücklichen Stunden festhalten kannst.â Lilly schlug es auf und begann zu lesen. Der erste Eintrag war dreieinhalb Jahre alt:
18. Juli 1984
Es ist sieben in der Früh. Ich hole schlaftrunken Niklas aus seinem Bettchen, er spielt mit seinem blauen Affen aus Plüsch und lächelt mich freundlich an. Er ist ein Jahr alt. Ich nehme ihn auf den Arm und gehe mit ihm in die Küche, Zeit für sein Frühstück. Er liebt dieses Morgenritual und kuschelt sich zufrieden an mich. Ich lächle, als ich daran denke, dass meine Mutter ihm den Spitznamen âHerr Baronâ gegeben hat, weil er sich noch immer so gern herumtragen lässt.
Es läutet an der Tür. Ich bin sofort alarmiert. Um diese Zeit kommt kein Briefträger. Die drei Herren in Zivil lächeln höflich: âKriminalpolizei!â Sie zeigen mir ihren Durchsuchungsbefehl. Lea schläft noch. Gott sei Dank.
Ich sehe den Männern dabei zu, wie sie jede einzelne Schublade ausleeren. Sie tragen Handschuhe, aber ich werde sofort, wenn sie gegangen sind, meine Unterwäsche waschen. Unter den Pullovern im Schlafzimmerschrank finden sie Geld. Ich wundere mich, ich habe vergessen, dass ich es vor langer Zeit als eiserne Reserve dahin
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