Lillys Weg
den ersten Bezirk. Ich möchte nicht, dass mich jemand nach Oskar fragt.
17. Februar 1988
Meine Tage sind leer ohne Oskar. Meine Gedanken sind ständig bei ihm. Hier ist es kalt und grau. Ich hasse den Februar. Es ist der Monat, in dem der Winter schon viel zu lange dauert und der Frühling noch auf sich warten lässt. Ich möchte am liebsten die Kinder nehmen und mit ihnen in den Süden fahren. Oskar abholen und in Sizilien am Meer spazieren gehen. Noch einen Monat bis zu meinem Geburtstag. Ob ich ihn dann sehen kann?
Es ist fünf Uhr morgens. Ich liege noch im Bett und male mir aus, dass wir alle wieder zusammen sind. Es muss so kommen. Ich habe nichts Schlimmes in meinem Leben getan, dass ich so ein hartes Schicksal verdient hätte. Und Lea und Niklas brauchen endlich wieder ihren Vater. Als ich die Eingangstüre höre, bleibt mir fast das Herz stehen. Ralf sagt, dass ich aufpassen soll, ob meine Wohnung verwanzt ist.
Als Oskar an meinem Bett steht, erschöpft und unrasiert, schreie ich auf vor Ãberraschung und halte mir dann die Hand vor den Mund. Die Kinder erwachen und stürzen in seine Arme: âIch musste noch einmal zurückkommen, ich habe es ohne euch nicht ausgehalten.â Er ist verrückt geworden. Weià er, wie gefährlich das ist? Hat er vergessen, dass wir auf seinen Haftbefehl warten? Lea und Niklas singen vor Freude und hüpfen begeistert auf unserem Bett auf und ab. Ich mache Frühstück für uns alle und war schon lange nicht mehr so glücklich â für diesen kurzen Augenblick.
Oskar besteht darauf, einen ânormalenâ Tag zu verbringen. âIch war so isoliert die ganze Zeit, ich möchte für ein paar Stunden einfach so tun, als ob alles in Ordnung wäre.â Wir fahren mit meinem Auto zur Zweiradmesse. Oskar besitzt eine alte Moto Guzzi California und hat seine Liebe zu Motorrädern nicht aufgegeben. Ich bin nie mitgefahren. Ich habe Angst. Der Tod von Ralfs Freund, der von einem Auto gerammt wurde, sitzt mir noch immer in den Knochen.
Auf dem Messegelände im Prater wimmelt es vor Menschen. Ich bin nervös, als wir durch die Hallen wandern, und versuche in den Gesichtern zu lesen, ob jemand Oskar erkennt. Gleichzeitig setze ich mich ihm zuliebe auf Motorräder und soll sagen, ob mir diese oder jene Maschine besser gefällt und ob wir uns eine neue Moto Guzzi kaufen sollen. Ich sorge dafür, dass wir so rasch wie möglich von Stand zu Stand gehen, nur keine langen Aufenthalte! Als er mit dem Honda-Verkäufer eine Fachdiskussion über die neue Gold Wing mit einem Sechszylinder-Boxermotor beginnt und viel zu lange stehen bleibt, beobachte ich jeden, der vorübergeht. Und was ist, wenn ein Polizist dabei ist? Er erklärt Lea und Niklas seelenruhig, dass die Musik im eingebauten Radio mit Kassettenrekorder aus Lautsprechern kommt, die im Helm eingebaut sind, und der Verkäufer lässt die beiden einen aufprobieren. Ich begreife ihn nicht. Wie kann er sich in seiner Lage für Motorräder interessieren? Oder ist es ein Selbstschutz, ein Weglaufen vor der tiefen Verzweiflung? Ich ziehe ihn wütend von dem Stand weg und will mit ihm reden. Aber Oskar verschlieÃt meinen Mund mit einem Kuss: âBitte, Lilly, ich brauche eine Auszeit!â, und steuert mit seinen Kindern die Halle mit den Kleinmotorrädern an.
Lea stürzt sich auf eine rote Vespa und ruft begeistert: âPapa, kann ich so eine haben, wenn ich gröÃer bin?â Er hebt sie hoch und lacht glücklich: âNatürlich, meine SüÃe!â Ich schnappe böse zurück: âSicher nicht! Niemals wird eines unserer Kinder auf ein Zweirad steigen!â Alle sehen mich erschrocken an, und ich entschuldige mich. Sie können nichts dafür, dass Ralfs Freund auf so schreckliche Weise umgekommen ist. Ich denke für einen Augenblick an Paris und an mein rotes Vélosolex, das ich mir buchstäblich vom Mund abgespart hatte. Ich nannte es Rougette und schlängelte mich damit frech durch den Pariser GroÃstadtverkehr. Als ich endgültig zurück nach Hause fuhr, überlieà ich es meinem Studienfreund Laurent. Ich wusste, dass Vater mir nie erlauben würde, mit so etwas Gefährlichem auf den StraÃen herumzufahren.
Ich bin erleichtert, als wir endlich wieder im Auto sitzen. Oskar will unbedingt noch zum Naschmarkt fahren und einkaufen. âIch möchte heute Abend für euch kochen, mit
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