Lillys Weg
euch in der Küche sitzen und endlich wieder einmal in unserem Bett schlafenâ, sagt er sehnsüchtig. Ich bin auÃer mir vor Sorge und stelle mir vor, dass uns auf der Zweiradmesse jemand erkannt und die Behörden verständigt hat.
Wir holen uns Pizza und übernachten alle bei Ralf. Ich bin dankbar, dass er Oskar keinen Vortrag über seine gnadenlose Dummheit hält, sondern nur lakonisch anmerkt: âDu musst schnell wieder weg, und vorher brauchen wir ein KommunikaÂtionssystem. Sobald der Haftbefehl da ist, kann Lilly nicht mehr in der Schule telefonieren. Das ist zu gefährlich.â Er schreibt auf einen Zettel die Nummer eines zuverlässigen Freundes, den Oskar anrufen kann, um ihm eine Telefonnummer zu hinterlassen, sobald er Rom verlässt.
19. Februar 1988
Ich muss Oskar wieder über die Grenze bringen. Diesmal mit einem alten, gelben Kleinbus, den er gestern von einem befreundeten Mechaniker samt Nummerntafeln unter der Hand gekauft hat. Das Auto ist auf die Werkstatt angemeldet, er kann mit ihm fahren, solange es noch keinen Haftbefehl gibt. Dann wird er es einfach stehen lassen und die Nummerntafeln zurückschicken.
Lea und Niklas fahren mit ihrer GroÃmutter, die gekommen war, um sie abzuholen, in den Bregenzerwald. Die Direktorin hat Verständnis, dass ich mein Kind aus der Schule nehme. Sie weià nichts, und doch weià sie alles. Ich sehe es an ihrem Blick. Sie wird mich nicht verraten.
Der Abschied von den Kindern findet auf einem Parkplatz an der Südautobahn statt. Meine Mutter bleibt in ihrem Auto, und ich weiÃ, dass sie jetzt weint. Oskar sitzt auf einer Bank, Lea und Niklas auf seinem SchoÃ. Zum zweiten Mal innerhalb so kurzer Zeit müssen sie Abschied nehmen. Sie spüren die Gefahr, halten ihn fest und bedecken sein Gesicht mit Küssen. Am liebsten würde ich sie mitnehmen. Aber ich kann ihnen die Strapazen nicht zumuten. Mit dem alten Kübel, der kaum heizt, mit der Angst im Nacken, dass ihr Vater vor ihren Augen verhaftet wird.
Ich beobachte sein Gesicht, während er fährt. Es ist wie in Stein gemeiÃelt. Keine Regung, keine Träne. Ich lege meine Hand auf seinen Arm. Er sieht mich nicht an und sagt leise: âBitte nicht, ich ertrage es nicht, ich kann jetzt nicht weinen.â
Kurz vor Villach ist es aus. Ein letztes Stottern, Oskar schafft es gerade noch auf den Pannenstreifen. Es ist schon dunkel. Ich stehe zitternd neben ihm, während er den Motor inspiziert. Er versucht vergeblich, den Bus wieder zu starten. Irgendein Autofahrer muss doch stehen bleiben und uns bis zu einer Werkstatt schleppen! Eine halbe Stunde, eine Stunde vergeht. Endlich â ein junger Mann. Nein, er könne uns nicht abschleppen, das ist auf der Autobahn verboten, aber er wird die Gendarmerie verständigen. Er ist selber Gendarm, kein Problem. Der Pannendienst wird dann bald da sein.
Der Filmtitel Angst essen Seele auf fällt mir ein. Jetzt weià ich, wie sich das anfühlt. Meine Horrorvisionen lähmen meinen Verstand: âEs kommt nicht der Pannendienst, sondern gleich die Polizei, weil es schon einen Haftbefehl gibt. Oder â es gibt keinen Haftbefehl, aber der Name fällt auf: âWas machen Sie hier, wo wollen Sie hin â Fluchtgefahr.ââ Ich atme tief durch: âOskar, wir müssen einen Plan machen. Wir müssen eine Antwort haben, wenn jemand kommt und uns fragt, wohin wir wollen.â Wir sitzen im kalten Auto, spielen alle Varianten durch und erfinden die Geschichte unserer Reise. Hinter uns die weiÃe Moto Guzzi, mit der er weiterfahren will, wenn der Bus zu gefährlich ist. Ein Motorrad kann man leichter in einer Scheune verstecken. Unsere Geschichte, auf die wir uns einigen, ist einfach: Ich bin Journalistin, und wir machen eine Reisegeschichte in Sizilien. Eine gute Story für die Grenze, falls wir noch hinkommen.
Die Autobahn ist inzwischen fast leer, und die wenigen Fahrzeuge, die jetzt noch vorbeikommen, bleiben nicht stehen. Der Pannendienst, den der Gendarm bestellen wollte, scheint uns vergessen zu haben. Oskar versucht ein letztes Mal zu starten. Ich bete inbrünstig und rufe alle Naturwesen aus dem Bregenzerwald um Hilfe. Das Wunder geschieht: Der gelbe Bus fährt wieder, wir sind gerettet. An der nächsten Tankstelle lassen wir das Auto reparieren. Es dauert die halbe Nacht, die Lichtmaschine ist kaputt. Noch einmal Angst an der Grenze von Tarvis. Gibt es schon
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