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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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einen Haftbefehl? Kein Mensch nimmt Notiz von uns, die Zöllner sind auch schon müde.
    20. Februar 1988
    Ich soll Oskars italienische Jugendfreundin und ihren Mann besser nicht kennenlernen. Das könnte sie in Gefahr bringen, wenn ich verhört werde. Ich werde nicht mit in den kleinen Ort in der Nähe von Rom kommen. Wir fahren in unser kleines Hotel. Venedig im Winter. Ich war um diese Zeit noch nie hier. Venedig mit Oskar, wie schon oft, aber alles intensiver, alles bewusster, alles viel kostbarer. Ich habe ihn einige Male begleitet, wenn er hier Zeugen getroffen hat, die bei der Verladung der Ware auf die Esmeralda in Chioggia dabei gewesen sind. Jetzt geht es nur um uns und um unsere Liebe. Wir schlendern durch schmale Straßen, entlang an vertrauten Kanälen, essen am Abend in kleinen, versteckten Lokalen. Hier habe ich keine Angst, dass ihn jemand erkennt. Nicht im Winter. Jetzt gehört die Stadt den Einheimischen, und der Karneval hat noch nicht begonnen. Ich lerne zum ersten Mal, ganz im Augenblick zu leben. Es gibt nichts anderes. Wenn ich nach vorne schaue, kommt die Angst. Was wird aus uns werden? Wir haben nur zwei Tage, dann muss ich zu den Kindern zurück.
    Manche Begriffe der deutschen Sprache verstand Lilly erst jetzt: „Leben auf einem Pulverfass“ war für sie bisher den Menschen vorbehalten, die in Kriegsgebieten lebten. Jetzt wartete die Explosion täglich auf sie. Wie lange konnte es noch dauern, bis ­jemandem auffiel, dass Paolo und Oskar das Land längst ver­lassen hatten? Sie mied noch immer andere Menschen, so gut es ging. Gleichzeitig fühlte sie sich einsam. Die schmale Spur, in der sie lebte, war eng. Kinder versorgen, mit Oskar telefonieren, Redaktion, Kinder versorgen. Am schlimmsten waren die Wochenenden, wenn Ralf zu Chris fuhr. Dann gab es in Wien niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen konnte. Früher, als sie mit Mama und Ella reden und jederzeit hinfahren konnte, war der Bregenzerwald ihr Refugium gewesen. Doch Telefonieren war jetzt zu gefährlich, und Lea musste zur Schule. Sie konnte sie nicht ständig entschuldigen, das war zu auffällig.
    Dann kam Johanna in ihr Leben. Sie lernten sich beim Elternsprechtag kennen, und Lilly wusste in der ersten Sekunde, dass sie ein „Tier vom selben Stamm“ war. Ralf hätte sie eine Seelenschwester genannt. Für Lilly war das Wort Seele zu katholisch besetzt. Eine Seele hatte eine ungewisse Zukunft. Sie kam in den Himmel, die Hölle oder ins Fegefeuer.
    Johannas Sohn Johnny war Leas bester Freund in der Schule. Und dann gab es noch seine Schwester Tilly. Sie war nur einen Monat älter als Niklas. Der Vater der beiden Kinder, ein Amerikaner, hatte Österreich, von Heimweh geplagt, wieder verlassen. Das Paar führte im Augenblick eine Fernbeziehung. Johanna war Therapeutin mit eigener Praxis und arbeitete halbtags in einer Drogenberatungsstelle der Gemeinde Wien. Lilly dachte einen Augenblick an Sybille, mit der sie früher so viel Zeit verbracht hatte. Sie würde bis zu ihrem Tod nie mehr mit ihr reden! Vielleicht konnte jetzt eine neue Freundschaft entstehen.
    3. März 1988
    Es gibt immer noch keinen Haftbefehl, und ich habe Sehnsucht. Sie ist größer als meine Angst. Ich werde es wagen, mit den Kindern Oskar zu besuchen.
    Werde ich überwacht? Wissen sie, dass Paolo und Oskar geflüchtet sind, und machen es nicht publik, weil sie darauf warten, dass wir Frauen sie auf die richtige Spur führen? Vielleicht habe ich auch nur zu oft Fernsehkrimis gesehen … Ich weiß nicht mehr, wo ich mir Gefahr einbilde und wo sie echt ist. Ich war immer ein gutgläubiger Mensch, jetzt bin ich misstrauisch.
    Der Wurstelprater, Wiens größter Vergnügungspark mit seinen vielen Besuchern, ist ein idealer Platz, um einen möglichen Staatspolizisten abzuhängen. Er kann sich nicht in seinem Fahrzeug verstecken, weil die meisten Bereiche des riesigen Areals autofreie Zone sind.
    Johanna und Ralf helfen mir. Es wird ein Großfamilien­ausflug am frühen Abend. Wir essen Würstel, Langos und mit Zucker überzogene Äpfel. Wir fahren alle mit dem Autodrom, ruinieren uns unseren Gleichgewichtssinn in der Hochschaubahn und irgendwann, jeder Verfolger muss längst müde geworden sein, setzen wir uns noch in die Geisterbahn. Dann kommt das Finale. Das Spiegelkabinett. Wir lachen über unsere hässlich verzerrten Körper und tun so, als ob es uns

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