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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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würde, und wollte ihnen den Schmerz ersparen. Später, als klar war, dass sie den Ernst der Lage unterschätzt hatte, nahm sie Zuflucht zu einer Notlüge: „Der Papa ist für eine Weile verreist, aber er kommt bald wieder.“ Lea machte ein ernstes Gesicht und verstand schon damals viel. Zu viel. Sie sah fremde Gesichter, Anwälte, die Lilly berieten, sie hörte ihr Flüstern, und in der Nacht, wenn ihre Mutter allein war mit ihren Ängsten, spürte sie ihre Verzweiflung. Und dann erfuhr sie es von anderen: „Dein Papa sitzt im Gefängnis, hinter Gitterstäben, wie die Tiere im Zoo“, sagte ein Mädchen in der Kindergruppe zu ihr. Als Lilly seine Mutter zur Rede stellte, verteidigte sie sich: „Ich hab’s nicht bös’ gemeint, ich wollte ihr nur mit ­einem einfachen Bild erklären, was passiert ist.“
    Und jetzt? Die Zeit damals war nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen. Jetzt war sie aus ihrem bürgerlichen Rahmen gefallen, wie ein Bild, das seinen gewohnten Halt verloren hat. Und der neue Rahmen, als Frau eines Mannes auf der Flucht vor der Justiz, war ihr noch fremd.
    Sie holte sich ein Glas Wein, setzte sich wieder auf ihr weißes Sofa, wickelte sich in die sandfarbene Kaschmirdecke, die Oskar ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, und schrieb mit ­ihrer schrägen, großzügigen Schrift mit lila Tinte weiter.
    7. Februar 1988
    Am Bahnhof von Tarvis wimmelt es von Skifahrern. Sie wollen alle in den Zug. Niklas schreit auf meinem Arm, ein Ski hat ihn am Kopf getroffen. Tränen rinnen über sein Gesicht. Lea lächelt und winkt tapfer. Im Zug der italienischen Staatsbahnen sitzt ihr Vater und fährt weg. Für immer? Ich höre noch einmal sein „Ich liebe dich“, halb verschluckt vom Knall der Türen, die der Schaffner zuschlägt. Wir laufen noch neben dem Zug her und sehen sein Gesicht am Fenster. Er versucht ein trauriges Lächeln, und ich sehe plötzlich, dass sein Haar über Nacht weiß geworden ist. Ich stehe am Bahnsteig wie die Frauen im Krieg und weiß nicht, ob er wiederkommt. Für mich ist jetzt Krieg.
    Die Kinder sind ganz still auf der Rückfahrt nach Wien. Ich sehe im Rückspiegel ihre ernsten, tapferen Gesichter und möchte am liebsten weinen. Stattdessen erzähle ich ihnen, dass der Papa eine lange Reise macht, sie nicken nur und scheinen zu verstehen. Dieses Mal lüge ich nicht, aber ich sage auch nicht die ganze Wahrheit. Soll ich sie warnen, dass ich jeden Tag mit einem Haftbefehl rechne, dass die Bombe bald platzen wird? Oskar ist in Italien, weil er Angst hatte, in Österreich verhaftet zu werden. Er vertraut unseren Gerichten nicht: „Wenn die erste Suche nach mir vorbei ist, dann werde ich nach Deutschland fahren und ein Gericht finden, das mich anhört. Sie können mich nicht abweisen, ich bin noch immer deutscher Staatsbürger.“ Ich halte mich an diesem Satz fest. Er tröstet mich und gibt mir eine Zukunftsperspektive.
    Doch nur für einen Augenblick. Ich denke an unsere Kinder, die noch immer still hinter mir im Auto sitzen und die über Nacht ihren Vater verloren haben. Für wie lange? Ich spüre, dass ich meine Tränen kaum zurückhalten kann. Ich reiße die Augen auf und suggeriere mir selber stumm: „Nicht weinen, nicht vor den Kindern weinen.“ In diesem Augenblick beugt Lea sich vor und legt mir ihre kleine Hand zwischen die Schulterblätter: „Mama, wein’ doch, das wird dir guttun.“
    Ich drehe mich kurz nach ihr um, und sie sieht mich mit ihrem kleinen, ernsten Gesicht an. Dann lächelt sie zaghaft. Ich weiß, dass sie für mich lächelt. Neben ihr schläft Niklas, seine Tränen haben eine leichte Schmutzspur auf seinen Wangen hinterlassen. Ich kann nicht mehr anders und lasse meinen Schmerz zu. Weil meine Tochter mit sieben Jahren schon erwachsen ist, weil mein viereinhalbjähriger Sohn um seinen Vater weint und weil mein Mann allein im Zug sitzt und in eine ungewisse Zukunft fährt.
    Dann erinnere ich mich an den Bregenzerwald. An die Naturwesen, die immer zu mir kommen, wenn ich sie rufe. Ich putze mir die Nase und weiß, dass ich stark sein muss. Ich kann mich nicht an meiner Tochter anlehnen.
    Niklas erwacht und Lea nimmt ihn sofort in den Arm. Ich bleibe stehen und verteile Brote und Kakao aus der Thermoskanne. Die beiden sind begeistert, dass Ralfs Auto sogar einen Tisch hat, an

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