Lillys Weg
ihn in Gefahr bringen.
Ein paar Tage später kam der Gerichtsvollzieher. Lilly war im Bademantel, und die Kinder schliefen noch, als er um sieben Uhr in der Früh an der Tür läutete. Er trug Badesandalen zu schwarzen Socken, was ihm ein absurdes Aussehen gab. âIch muss Ihre Wertgegenstände pfänden, Herr Baldini hat die Schneiderrechnung für seine letzten Anzüge nicht bezahlt.â Sie wollte ihn nicht hereinlassen und versperrte ihm den Durchgang. Er sah sie lüstern an: âWir könnten die Sache auch anders regeln, wenn Sie mir ein bisschen gefällig sein wollen. Ihr Mann wird ja wohl kaum wiederkommen.â
Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu, duschte sich den Ekel weg, holte ihr Tagebuch, das sie inzwischen hinter den Kochbüchern versteckte, heraus und setzte sich zitternd vor Zorn im Wohnzimmer auf ihr weiÃes Sofa.
10. April 1988
Zurück in Wien. Zum ersten Mal nach dem Haftbefehl, und alles ist anders. Ich bin die Frau des Verbrechers, die Frau des Flüchtigen. Die Journalistin und Zeitungsherausgeberin hat aufgehört zu existieren. Für die meisten bin ich âdie Frau
vom Baldiniâ, Objekt der Neugierde, des Mitleids, der üblen Nachrede. Und Persona non grata. Die Wochenzeitung, für die ich eine Psycho-Kolumne geschrieben habe, kann plötzlich Âmeine Texte âaus Platzmangelâ nicht mehr drucken. Aus dem Kommentar zur Lage des österreichischen Gesundheitswesens, für das mich eine andere Zeitung vor meiner Abreise gewinÂnen wollte, wird auch nichts: âMein Gott, mit Ihrem Namen, das geht doch nichtâ, bedauert der zuständige Ressortchef. Unter einem anderen Namen soll ich schreiben, rät er mir. BekanÂnte wechseln die StraÃenseite, damit sie mich nicht grüÃen müsÂ-sen.
Das Gerücht taucht auf, ich hätte mich endlich von meinem Mann scheiden lassen. Menschen, die noch zu ihm stehen, beschimpfen mich dafür, andere gratulieren. Ich dementiere. Mein Leben sei zerstört, ich hätte Angst, von der Mafia umgebracht
zu werden, schreibt eine Monats-Gazette und zeigt ein Foto, auf dem Oskar Lea auf den Schultern trägt. Es ist bei einer VernisÂsage in âFriedenszeitenâ entstanden.
Ich versuche, mir eine dicke Haut zuzulegen.
Alle wollen wissen, wie es einem denn so geht als Frau eines Verbrechers. Das sagt natürlich niemand. Aber die Botschaft kommt klar genug an.
Ich telefoniere mehrmals in der Woche mit Oskar in seinem deutschen Bastelkeller, laufe ständig mit riesigen Rollen Geld herum und gebe ein kleines Vermögen aus. Es gibt so wenig Kartentelefone, und ich wage es kaum, denselben Apparat zweimal zu benützen. Ich schleiche durch Parks und stürze mich plötzlich in eine Telefonzelle, ich fahre in Vororte, in denen ich noch nie war. Tarnen und Täuschen beherrschen mein Leben. Ich kann an nichts anderes mehr denken.
Den Kindern habe ich gesagt, sie dürfen alles von ihrem Osterurlaub erzählen, vom Wohnmobil, vom Campingplatz â alles. Nur eines dürfen sie nicht. Sie dürfen nie sagen, dass ihr Vater dabei war. Niklas bitte ich, das Wort Vater durch Ralf zu ersetzen. Hoffentlich funktioniert es. Ich bin mir darüber im Klaren, dass jeder, der ihn intelligent ausfragt, die Wahrheit erfahren kann.
Ich spreche mit den Kindergruppenbetreuerinnen von Niklas und mit den Lehrerinnen von Lea. Ich bitte sie, auf die Kinder besonders gut aufzupassen und sie vor Diffamierungen zu schützen. AuÃerdem sage ich ihnen, dass ich nicht wünsche, dass sie mit Fremden sprechen. Vor allem Niklas nicht. Er ist zu klein, um etwas zu verbergen, und Lea ist klug genug, soll aber nicht belastet werden. Niemand weiÃ, dass Oskar sich in Deutschland aufhält. Es ist zu einfach und zu nah.
Lilly klappte ihr Tagebuch zu, weckte die Kinder, kochte Kakao, schmierte Pausenbrote und war mit ihren Gedanken ganz woanders. Seit gestern gab es eine Anklageschrift in Wien. Markus Längle hatte sie gebeten, Oskar zu besuchen. Er meinte, es wäre klug, wenn Oskar die Vorwürfe im Detail beantworten könnte. âAber seien Sie um Gottes willen vorsichtig, Ihr Telefon wird abgehört, Ihre Wohnung ist verwanzt, und vor Ihrer Tür steht ein Auto mit einer Zivilstreife.â
Ralf war dagegen: âDu darfst dich nicht so stark hineinziehen lassen. WeiÃt du, was das bedeutet, wenn du inhaltlich in den Fall verwickelt wirst? Es genügt doch
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