Lillys Weg
ihn erkennen, wenn er sein Fahndungsfoto sieht. Er spricht wenig, ist in sich gekehrt. Das Leben im Bastelkeller fordert seinen Tribut. Ich merke, dass er sich so sehr in sich selbst zurückgezogen hat, dass wir fast eine Last sind. Zu viele Menschen, zu laut, zu präsent, zu fordernd. Und auÃerdem sollten wir an der Anklageschrift arbeiten. Ich habe Mühe, mich an den Mann zu erinnern, den ich liebe. Die Isolation hat ihn krank gemacht, er ist ein Fremder in seinem offiziellen Heimatland.
Die Kinder spüren unsere Spannungen und sind laut und anhänglich. Wir flüchten uns in die Arbeit und streiten. Er diktiert und kommentiert Seite für Seite der Anklageschrift. Ich bin oft ungeduldig, finde seine Aussagen zu wenig präzise, zu wenig ausführlich oder zu ausführlich. Er behandelt mich wie eine Schreibkraft, der man Befehle erteilt.
In den wenigen Stunden, die uns in der Nacht bleiben, versöhnen wir uns wieder und schenken einander Geborgenheit. Die Seiten füllen sich, wir arbeiten täglich bis spät am Abend. Ich bin empört über diese Anklage. Es gibt eine Unzahl von Widersprüchen und ich kann vor Wut nicht schlafen. Darf man so mit Menschenleben umgehen? Als wir fertig sind, bin ich zufrieden und sicher, dass Oskar eines Tages Gerechtigkeit widerfahren wird. Gleichzeitig frisst mich die Sorge fast auf. Er muss aus diesem Keller heraus, er wird hier verrückt.
23. Mai 1988
Zurück in Wien. Die Kinder wissen nicht, an welchem Ort wir waren, wissen nicht, wie die beiden Männer heiÃen, die Oskar aufgenommen haben. Sie kennen einen Garten und einen Hund, der Backo heiÃt. Sie werden ihren Vater nicht verraten können. Nicht einmal, wenn jemand sie ausquetscht.
Aber niemand scheint sie zu belästigen. Lea kommt eines Tages nach Hause und sagt: âMami, ich habe mir einen Spruch ausgedacht. Wenn jemand was Blödes über den Papa sagt, dann werde ich antworten: âMein Vater ist ein guter Mann, und wo er ist, geht dich nichts an.ââ Ich gehe aufs Klo und weine heimlich. Ich bin immer wieder erschüttert von ihrer Klugheit und ihrer Tapferkeit. Plötzlich kommt wieder die Angst in mir hoch. Unser Kontakt ist lebensgefährlich. Ich sollte Oskar nicht mehr besuchen. Ich will nicht die Frau sein, die die Polizei oder die Medien auf seine Fährte bringt. Die drohenden Worte eines Enthüllungsjournalisten, der sich auf den âFall Esmeraldaâ spezialisiert hat, fallen mir wieder ein. âFrau Baldini, ich verfolge Ihre Spur bis nach Deutschland.â Nur Worte, weil er beleidigt ist, dass ich ihm kein Interview gebe? Oder Wissen? Kann es sein, dass er wirklich meine Spur verfolgt hat?
Später telefoniere ich mit Oskar. Es geht ihm schlecht. Er hat Kopfweh und Schwellungen hinterm Ohr. Der Druck macht ihn krank. Ich muss bald hinfahren, auch wenn es gefährlich ist. Er braucht mich.
Markus Längle warnt mich vor dieser Reise. Er macht sich groÃe Sorgen um meine Ãberwachung. âSie wollen ihn jetzt unbedingt finden, sie vermuten, dass er sich in Deutschland stellen will, und wollen ihn vorher verhaften.â
Lillys Leben war nur noch von Oskar beherrscht. Er war ihr so nah, dass sie keine Sekunde mehr allein war. Sie wusste nicht mehr, wo ihre eigenen Grenzen aufhörten und wo seine anfingen. Sie erwachte mit ihm, er begleitete sie durch ihre Tage. Es gab nur eine Zeitrechnung: von einem Anruf zum nächsten. Ralf machte sich Sorgen um sie: âDu gibst dich auf für ihn, du kannst dieses Leben nicht mehr lange durchhalten. Und wenn du schon nicht an dich denkst, denk an die Kinder. Sie brauchen dich.â Sie wusste, dass er recht hatte, und versteckte den Ausschlag an Âihren Händen, der sie seit dem Haftbefehl quälte. Ihre Haut war schon ganz dünn von den vielen Kortisonbehandlungen, und wenn sie zu Hause war, trug sie weiÃe Baumwollhandschuhe, um ihre Hände zu schonen.
Wenn die Kinder schliefen, schrieb sie meistens in ihr Tagebuch. Ralf wollte, dass sie sich professionelle Hilfe suchte, aber Lilly wusste, dass es ihr am besten half, wenn sie sich ihr verrücktes Leben von der Seele schrieb. Verrückt. Im wahrsten Sinn des Wortes. Nichts mehr war an seinem Platz. Kein Stein war mehr auf dem anderen geblieben. Doch sie spürte kein ÂBedauern. Auch darüber nicht, dass sie Oskar damals, als er Sybille liebte, nicht verlassen hatte. Sie hatte eine Wahl getroffen. Und
Weitere Kostenlose Bücher