Lillys Weg
damit hatte sie die Weichen dafür gestellt, dass sie es war, die ihn durch seine schwere Zeit begleitete, und nicht eine andere Frau.
1. Juli 1988
Ich liege auf einem fremden Sofa und warte. Mein Blick streift über die Einrichtung, den Staub auf dem Tischchen, auf dem das Telefon steht, die Zeitungen, die in einem groÃen Korb liegen. Ich registriere nebenbei, dass die Tür zum Schlafzimmer offen ist und der Besitzer der Wohnung ein Faible für roten Plüsch hat. Ich liebe Wohnungen. Sie erzählen in ausdrucksvollen Bildern die Geschichte der Menschen, denen sie gehören. Doch in meinem neuen Leben bedeutet mir das nichts mehr. Ich bin dem Unbekannten, der mir für eine Stunde einen Schutzraum schenkt, der nicht von der Polizei überwacht wird, dankbar. Er weiÃ, dass ich in Not bin, aber er kennt mich nicht persönlich. Er gehört zum Netzwerk, das Ralf in seiner âSchwulenkommuneâ für mich aufgebaut hat. Ich werde auf die Uhr sehen, wenn ich nach Deutschland telefoniere, und dann Geld hierlassen. Genug für die Telefonrechnung und noch ein bisschen mehr.
Früher habe ich in den Wohnungen meiner eigenen Freunde telefoniert. Jedes Mal in einer anderen. Jetzt ist Oskar seit fünf Monaten auf der Flucht, und die Freunde, bei denen ich noch nicht war, sind mir längst ausgegangen. Ich telefoniere inzwischen in den Wohnungen der Freunde der Freunde von Ralf. Einmal in der Woche.
Ich habe noch immer Angst, dass Oskar nicht mehr anruft, weil sie ihn geschnappt haben, weil ihm etwas passiert ist, weil er für immer verschwunden ist ⦠Ich sehe Horrorszenen vor mir und glaube, wenn die Schatten am längsten sind, dass ich die Wahrheit als Klartraum erlebe: eine ganz normale VerkehrsÂkontrolle. Der Polizist winkt Oskar zur Seite. Er steigt aus, und ich spüre mit jeder Faser seine Todesangst, seine weichen Knie und seine Verzweiflung. Es ist alles vorbei. Sie werden ihn erkennen. Der Polizist verliert seinen neutralen Gesichtsausdruck, als er in Oskars Personalausweis schaut. Er lässt sich Zeit. Dann sagt er ungerührt: âIch muss Sie bitten, mitzukommen, wir müssen Ihre Identität überprüfen, Sie sehen Ihrem Foto nicht ähnlich.â
Die Szenen verfolgen mich, bis ich das nächste Mal seine Stimme höre und weiÃ, dass inmitten dieses Albtraums alles gut ist.
Manchmal sind es keine Szenen, die ich erlebe, manchmal träume ich. Es ist ein Traum, der sich immer wiederholt, und wenn ich von meinem eigenen Schreien aufwache, bin ich dankbar, dass ich in meinem Bett liege.
Oskar und ich sind in einer fremden Stadt. Wir haben einen schwarzen Hund und spazieren über Brücken, an wunderschönen Häusern mit Gärten vorbei, von denen jedes eine andere Farbe hat. Ich bin glücklich. Wir halten einander an den Händen, die Frühlingssonne scheint warm auf unsere Gesichter, und die kleine Brise, die vom Meer kommt, verspricht uns für den Nachmittag einen Liegestuhl am Strand und Wellen mit weiÃen Schaumkronen.
Der Sturm kommt aus heiterem Himmel. Die Palmen biegen ihre Fächer plötzlich bis zum Boden, die Gartenstühle der Cafés fliegen durch die Luft, Markisen flattern hilflos im Wind und verfangen sich, wenn sie sich losgerissen haben, in Bäumen und Balkonen. Wir rennen in Panik durch die StraÃen, wir wollen zurück zum Hotel. Mit uns rennen viele. Rücksichtslos und in Todesangst. Oskar hält noch immer meine Hand. Er ist schneller als ich und zieht mich hinter sich her. Aus einer Seitengasse stürmt eine Gruppe Menschen auf uns zu, die Gesichter verzerrt vor Angst. Sie reiÃen mich von Oskar weg.
Im nächsten Bild des Traumes bin ich allein. Nein, nicht ganz allein. Der schwarze Hund, den ich schon vergessen hatte, ist bei mir. Wir wandern durch die zerstörte Stadt auf der Suche nach Oskar. Niemand kann uns helfen. Es gibt so viele, die jemanden suchen ⦠Und plötzlich spüre ich mit eiskalter Sicherheit, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde.
Während ich auf die wichtigste Stunde der Woche warte, geht das Leben seinen gewohnten Gang. Ich wecke die Kinder, sie gehen in die Schule und in den Kindergarten, ich schreibe Reportagen, vertiefe mich in neue Themen und bin froh, wenn mein eigenes Leben für Momente in den Hintergrund tritt.
Und dann liege oder sitze ich wieder in einer fremden Wohnung â ich habe aufgehört zu zählen, die wievielte es ist
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