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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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schon, dass du deinen Mann emotional versorgst.“ Lilly hörte nicht auf ihn.
    15. Mai 1988
    Zum ersten Mal, seit es einen Haftbefehl gibt, fahre ich weg. Ich bin mir der Gefahr bewusst, ich weiß, dass ich beobachtet werde. Ich habe Angst, und trotzdem keine Wahl.
    Das Gepäck ist seit gestern im Auto. Mein ganzes technisches Equipment hat in einem Pilotenkoffer Platz. Ich bin froh, dass ich mich damals, als die ersten auf den Markt kamen, für einen Laptop entschieden habe, damit ich zu Hause arbeiten kann, wenn eines der Kinder krank wird. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal viel größere Sorgen haben werde als kranke Kinder.
    Ich spaziere durch die Innenstadt. Lea und Niklas tollen vor mir her, klettern auf die Pestsäule am Graben und betteln um einen Schilling für den Clown, der auf dem Asphalt Räder schlägt und auf einer Miniaturgitarre spielt. Ich kaufe jedem ein neues Kuscheltier im Spielzeugladen und esse mit ihnen im Café Hawelka Buchteln. Meine Bewacher sollen verstehen, dass wir uns einfach einen schönen Nachmittag machen. Die Kinder wissen noch nicht, dass wir wieder abreisen werden, ich möchte, dass
sie ihre Unbeschwertheit nicht spielen müssen. Wir gehen zum ­Kohlmarkt, ich zeige ihnen das Haus, in dem der Papa und ich geheiratet haben, und wir trinken im Erdgeschoss eine heiße Schokolade. Auf der Toilette, nachdem ich mich überzeugt habe, dass wir alleine sind, informiere ich sie mit unserer Zeichen­sprache. Ich habe sie als Kind gemeinsam mit meinem Freund Willi erfunden, damit wir uns heimlich verständigen konnten. Lea und Niklas sind inzwischen auch schon geübt darin. Ich habe sie ihnen an Ostern auf dem deutschen Campingplatz beigebracht. Es dauert nur ein paar Minuten, bis der neue Plan klar ist.
    An jeder Hand ein Kind, steige ich in die U-Bahn am Stephansplatz. Ich spüre, wie ihre Hände ganz fest in meinen liegen, sie wissen genau, was sie zu tun haben. Eine Sekunde vor der Zugabfahrt stürzen wir auf den Bahnsteig zurück. Niemand steigt mit uns wieder aus. Ich bin beruhigt. Wir fahren in die Gegenrichtung und finden bei der Endstation Reumannplatz auf einem Parkplatz einen VW Passat. Der Zweitschlüssel ist in meiner Tasche. Ralf hat einen Freund, dem er vertraut, gebeten, ihn zu mieten, und hat schon gestern unser Gepäck im Kofferraum verstaut.
    Die nächste Hürde ist die Grenze. Ich lächle den Zollbeamten strahlend an und strecke ihm durch das bereits geöffnete Wagenfenster unsere Papiere entgegen. Die deutschen Kinderpässe liegen oben. Der Zollbeamte müsste sie aus der Hülle nehmen, um die Namen zu sehen. Er sieht keinen Anlass, die nette Frau mit den beiden Kindern zu überprüfen. Wir haben es geschafft und stimmen ein Freudengeheul an. Bei der nächsten Autobahnstation machen wir eine Pause. Ich bin erschöpft. Die Kinder nutzen meine gute Laune und betteln mir Geld für Micky-Maus-Hefte ab.
    Ich trinke Kaffee und beobachte die spielenden Kinder. Ich erinnere mich daran, wie wütend ich damals war nach der Geburt von Lea. „Ein deutsches Kind“, habe ich getobt, „ich will kein deutsches Kind.“ Damals erhielten Kinder aus sogenannten „gemischten“ Ehen automatisch die Staatsbürgerschaft des Vaters. In unserem Fall eines Vaters, der seit seiner Kindheit in Österreich lebt und dessen deutscher Vater nicht einmal seine Enkel kennenlernen möchte. Jahrelang habe ich ihn gequält, er möge endlich die österreichische Staatsbürgerschaft annehmen. Er hat sich immer geweigert. „Ich hasse Ämter“, war sein Argument. Wusste er schon damals, dass er in Gefahr ist? Ein deutscher Staatsbürger wird nicht nach Österreich ausgeliefert. Und ein Prozess in Deutschland ist seine einzige Chance. Hier gibt es keine politischen Interessen, keine Interventionen, keine Unterdrückung von entlastenden Daten.
    Die Kinder sind nach all den Aufregungen im Auto eingeschlafen. Habe ich das Recht, sie in dieses Leben hineinzuziehen? In dieses Versteckspiel, in das Lügen, das Schweigen-Müssen? Wäre es besser, ihnen ihren Vater vorzuenthalten? Ich werde vielleicht nie erfahren, was richtig ist. Aber ich kann nicht anders handeln, ich muss meinem Herzen folgen.
    Oskar hat sich wieder verändert. Nicht nur äußerlich. Mit seinem weißen Bart, den grauen, kurzen Haaren und dem zerfurchten Gesicht ist er ein anderer. Niemand wird

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