Lily und der Major
konnte ihm
nicht gegenübertreten. Obwohl es Hank gewesen war, der sie verraten und am
Altar stehengelassen hatte, sollte er nicht sehen, was aus ihr geworden war.
Sie raffte ihre Röcke und ergriff die Flucht.
»Velvet!«
schrie Hank ihr nach. »So warte doch!«
Aber sie rannte blindlings weiter
und blieb erst stehen, als sie Lilys kleines Haus erreichte.
Lily pumpte gerade Wasser für den
großen Wasserkessel, weil einige ihrer Kunden schon Hemden bei ihr abgegeben
hatten. Und da stürzte plötzlich Velvet auf den Hof. Sie war leichenblaß und
hatte einen gehetzten Ausdruck in den Augen.
»Er ist hier!« stieß sie hervor. »O
Lily, er ist hier, in Fort Deveraux!«
Lily zog
ihre Freundin ins Haus.
»Er ist
hier!« rief Velvet noch einmal.
»Wer ist
hier?« fragte Lily verständnislos.
»Hank«, stöhnte Velvet. »Der Mann,
den ich heiraten wollte. Er scheint jetzt Fotograf zu sein, aber als ich ihn
kannte, war er Farmer. Wir wollten heiraten, aber als der Tag der Hochzeit kam,
stand ich mit meinem schönen neuen Kleid ganz allein vor dem Altar! Er ist
einfach nicht zur Trauung erschienen.«
Lily streichelte Velvets Arm. »Ihr
Vater hätte ihn erschießen sollen«, sagte sie entrüstet.
Velvet brach in ein herzzerreißendes
Schluchzen aus, und Lily reichte ihr ein Taschentuch. »Pa sagte, ich wäre ohne
den Schuft besser dran«, fuhr Velvet fort, als sie sich die Nase geputzt hatte.
»Dann zwang er mich, mit ihm und meinem Bruder Eldon nach Westen zu ziehen.«
»Vielleicht hatte Hank ja einen
Grund, nicht zur Hochzeit zu erscheinen«, gab Lily zu bedenken. »Haben Sie ihn
danach gefragt?«
Velvet schüttelte den Kopf. »Das
ließ mein Stolz nicht zu.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht.« Velvets Stimme
zitterte. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn Hank etwas von Suds Row erführe –
und von Judd.«
Lily seufzte. »Hat Hank Sie
gesehen?«
Velvet nickte. »Ja – aber ich bin
davongerannt, als wäre mir der Teufel auf den Fersen.«
»An einem kleinen Ort wie diesem
werden Sie Hank früher oder später wiedersehen«, sagte Lily nachdenklich.
»Er würde es nie verstehen«,
flüsterte Velvet.
»Er braucht es auch nicht zu
verstehen«, widersprach Lily gereizt. »Er war es schließlich, der Sie hat
sitzenlassen, oder?«
Velvet nickte. »Ja, aber ich könnte
nicht mit ihm reden. Ich habe zuviel Angst davor.«
Lily seufzte. »Velvet Hughes, ich
habe heute eine Menge Arbeit. Tun Sie einfach das, was Sie für richtig halten.«
»Könnten Sie nicht mit ihm reden, Lily?«
»Nein, das ist Ihre Sache«,
entgegnete Lily ungeduldig. Doch Velvet war so niedergeschlagen, daß Lily
schließlich nachgab und zum Exerzierplatz ging. Der Fotograf machte gerade
Aufnahmen von einigen Soldaten. Lily wartete geduldig, bis er sie bemerkte.
»Hat Velvet Sie geschickt?« fragte
Hank sofort. Er war ein gutaussehender Mann mit seinem dunklen Haar und den
wachen braunen Augen.
Lily nickte
und nannte ihm ihren Namen.
»Warum ist Velvet fortgelaufen?«
fragte Hank verwundert.
»Die Leute laufen aus den verschiedensten Gründen fort«, antwortete
Lily kühl. »Das sollten Sie am besten wissen.« Hank schien verblüfft. »Ich
fürchte, ich verstehe nicht.« Lily holte tief Atem. »Velvet hat an ihrem
Hochzeitstag auf Sie
gewartet. Aber Sie sind nicht zur Trauung erschienen.«
»Aus gutem Grund.«
»Vielleicht sollten Sie das Miss
Hughes erklären«, versetzte Lily kühl und wandte sich ab. »Guten Tag.«
»Miss
Chalmers?«
Sie schaute
sich noch einmal um.
»Wo finde ich Velvet, falls ich ihr
etwas erklären möchte?« erkundigte er sich lächelnd.
Lily erwiderte sein Lächeln. »Velvet
arbeitet in Colonel Tibbets Haushalt.«
Als Lily später zu den Tibbets zum
Abendessen ging, öffnete Velvet ihr die Tür. »Hast du ihn gesehen?« fragte sie
erregt. »Warum ist er hier? Was hat er gesagt?«
Lily lächelte ihre Freundin an. »Er
wird herkommen und dich besuchen«, sagte sie und sah im gleichen Augenblick
Caleb in der Tür zum Salon erscheinen. Dabei hatte sie so sehr gehofft, daß er
nicht eingeladen war!
»Hallo, Lily«,
sagte er.
»Major«,
erwiderte Lily kühl.
»Komm
herein. Du wirst schon sehnsüchtig erwartet.« Etwas in seinem Ton erregte Lilys
Argwohn, aber sie folgte ihm tapfer in den Salon.
Mrs. Tibbet unterhielt sich mit dem
Pfarrer der Garnison, Captain Horatio, und Lily hätte am liebsten die Flucht
ergriffen, aber sie sah ein, daß das nicht möglich war.
»Guten
Abend, Mrs.
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