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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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anschickte, im kostspieligen Szeneviertel Xintiandi Quartier zu beziehen. Drei Tage ohne Rasur taten das ihre. In einen klebrigen Lappen von T-Shirt gehüllt, dem man die 37° Celsius und gefühlten 99,9 Prozent Luftfeuchtigkeit eher ansah als die Farbe, die es einmal besessen hatte, seit 24 Stunden praktisch ohne Nahrung, wünschte Jericho nichts sehnlicher, als den Umzug möglichst schnell hinter sich zu bringen. Diese Kiste noch, auf einen Imbiss in die Taicang Lu, weiter auspacken, duschen, rasieren.
    Das war der Plan gewesen.
    Doch als er Chen im staubigen Licht dastehen sah, wusste er, dass er seinen Besucher nicht auf später vertrösten durfte. Chen war jemand, von dem man träumte, wenn man ihn fortschickte, außerdem verbot es sich schon aus Anstand gegenüber Tu Tian. Er stellte den Karton zurück auf den Stapel und setzte ein Lächeln der Kategorie B auf: herzlich, aber unverbindlich.
    »Chen Hongbing, nehme ich an.«
    Sein Gegenüber nickte und blickte bestürzt zwischen die Kisten und zusammengepferchten Möbelstücke. Er hüstelte. Dann trat er einen kleinen Schritt zurück.
    »Ich komme zur falschen Zeit.«
    »Keineswegs.«
    »Es ergab sich so, ich – war in der Nähe, aber wenn es Umstände macht, kann ich auch später –«
    »Es macht überhaupt keine Umstände.« Jericho sah sich um, zog einen Stuhl heran und platzierte ihn vor dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, ehrenwerter Chen, fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich ziehe hier gerade ein, daher das Durcheinander. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
    Kannst du nicht, dachte er, dafür hättest du einkaufen müssen, aber du bist ein Mann. Wenn Frauen umziehen, versichern sie sich eines gefüllten Kühlschranks, bevor die erste Kiste den Umzugswagen verlässt, und wenn keiner da ist, kaufen sie einen und schließen ihn an. Dann fiel ihm die halb volle Flasche Orangensaft ein. Sie stand seit gestern Morgen auf dem Fenstersims im Wohnzimmer, was nichts anderes hieß, als dass sie ein zweitägiges Dasein in der prallen Sonne geführt und sich in ihrem Inneren möglicherweise intelligentes Leben entwickelt hatte.
    »Kaffee, Tee?«, fragte er trotzdem.
    »Danke, vielen Dank.« Chen ließ sich auf die Stuhlkante niedersinken und widmete sich der Betrachtung seiner Knie. Falls er überhaupt in Kontakt mit der Sitzfläche geraten war, würde es physisch kaum messbar sein. »Ein paar Minuten Ihrer Zeit sind mehr, als ich unter den gegebenen Umständen erwarten kann.«
    Hölzerner Stolz schwang in den Worten mit. Jericho zog einen zweiten Stuhl heran, platzierte ihn neben Chen und zögerte. Eigentlich gehörten vor den Schreibtisch zwei bequeme Sessel, beide in Sichtweite, allerdings zu unförmigen Klumpen Noppenfolie mit Gepäckband mutiert.
    »Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen helfen zu dürfen«, sagte er, während er sein Lächeln einer Verbreiterung unterzog. »Wir werden uns so viel Zeit nehmen, wie wir brauchen.«
    Chen rutschte langsam auf seinem Stuhl nach hinten und ließ sich vorsichtig gegen die Lehne sinken.
    »Sie sind sehr freundlich.«
    »Und Sie sitzen unbequem. Entschuldigen Sie vielmals. Lassen Sie mich für bequemere Sitzgelegenheiten sorgen. Es ist zwar alles noch verpackt, aber –«
    Chen hob den Kopf und blinzelte ihn an. Jericho war vorübergehend irritiert, dann begriff er: Chen sah im Grunde gut aus. In früheren Jahren musste er einer jener Männer gewesen sein, die Frauen als schön zu bezeichnen pflegten. Bis zu dem Tag, da etwas seine ebenmäßigen Züge zur Maske geschliffen hatte. Auf groteske Weise mangelte es ihm nun an Mimik, sah man vom gelegentlichen nervösen Blinzeln ab.
    »Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Sie meinetwegen –«
    »Es wäre mir eine besondere Freude.«
    »Auf keinen Fall.«
    »Sie müssen sowieso ausgepackt werden.«
    »Das müssen sie gewiss, aber zu einem Zeitpunkt Ihrer Wahl.« Chen schüttelte den Kopf und erhob sich wieder. Seine Gelenke knackten. »Ich bitte Sie! Ich bin viel zu früh, Sie stecken mitten in der Arbeit und dürften wenig begeistert sein, mich zu sehen.«
    »Aber nicht doch! Ich freue mich über Ihren Besuch.«
    »Nein, ich sollte später wiederkommen.«
    »Mein lieber Herr Chen, kein Moment könnte passender sein. Bitte, bleiben Sie.«
    »Das kann ich Ihnen nicht zumuten. Hätte ich gewusst –«
    Und so weiter, und so fort.
    Theoretisch ließ sich das Spiel endlos fortsetzen. Nicht, dass einer von ihnen Zweifel hegte, was die Position des anderen anging. Chen wusste nur zu

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