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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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gut, dass er Jericho im unpassenden Moment erwischt hatte, woran auch gegenteilige Bekundungen nichts änderten. Jericho wiederum war klar, dass Chen auf einem Nagelbrett bequemer gesessen hätte als auf jedem seiner Küchenstühle. Die Umstände waren schuld. Chens Anwesenheit verdankte sich einem System, in dem Gefälligkeiten einander jagten wie junge Hunde, und er schämte sich in Grund und Boden, es verpatzt zu haben. Als Folge einer solchen Gefälligkeit war er nämlich hier, törichterweise zu früh gekommen und mitten in einen Umzug geplatzt, womit er dem Vermittler Schande bereitet und den Vermittelten in die unerquickliche Situation gebracht hatte, seinetwegen die Arbeit niederlegen zu müssen. Denn natürlich würde Jericho ihn nicht auf später vertrösten. Das Ritual der Höflichkeiten sah eine nach oben offene Abfolge von »Nein, doch, keineswegs, aber sicher, es wäre mir eine Ehre, auf keinen Fall, doch, nein, doch!« vor. Ein Spiel, das, wollte man es beherrschen, jahrelangen Trainings bedurfte. War man peng you, ein Freund im Sinne einer nützlichen Schnittstelle, wurde es anders gespielt, als wenn man xiongdi war, ein Vertrauter des Herzens. Gesellschaftlicher Stand, Alter und Geschlecht, Gegenstand des Gesprächs, alles war mit einzubeziehen in die Koordinaten des Anstands.
    Tu Tian zum Beispiel hatte das Spiel abgekürzt, als er Jericho ziemlich unverblümt um besagten Gefallen ersucht hatte, einfach indem er ihn xiongdi genannt hatte. Einem Seelenverwandten gegenüber konnte man sich den diplomatischen Eiertanz sparen. Vielleicht, weil ihm an Chen wirklich etwas lag, möglicherweise auch nur, weil er die Partie Golf nicht für ein langatmiges Prozedere unterbrechen wollte, dessen Ausgang ohnehin feststand. Als er mit der Sache rausgerückt war, erstrahlte jedenfalls gerade eine dottergelbe Spätnachmittagssonne zwischen freundlich auseinandertreibenden Pluderwolken und tauchte die Umgebung in die Farben italienischer Landschaftsmalerei der Renaissance. Ein zweitägiger Regen endete, und Herr Tu, der comme il faut begonnen hatte mit den Worten: »Owen, ich weiß, du hast entsetzlich viel um die Ohren mit deinem Umzug, und ich würde dich normalerweise nicht behelligen –«, schaute in den Himmel, förderte die Big Bertha zutage und endete lapidar: »– aber du könntest mir einen Gefallen tun – xiongdi.«
     
    Tu Tian auf dem Tomson Shanghai Pudong Golfplatz, zwei Tage zuvor, hoch konzentriert.
    Was immer der Gefallen sein mag, Jericho fügt sich ins Warten. Tu ist vorübergehend auf einem anderen Planeten, holt aus zu einem kraftvollen Drive. Rhythmischer Schwung aus dem Rücken heraus, Muskeln und Gelenke in automatisierter Harmonie. Jericho ist talentiert, seit zwei Jahren gebührt ihm die Ehre, auf Shanghais besten Plätzen zu spielen, wenn Menschen wie Tu ihn dahin einladen, und wenn nicht, spielt er im renommierten, aber bezahlbaren Luchao Harbour City Club. Der Unterschied zwischen ihm und Tu Tian ist, dass der eine niemals annähernd erreichen wird, was dem anderen genetisch eingegeben scheint. Beide haben sich eher spät entschlossen, weiße Bällchen auf über 200 Stundenkilometer zu beschleunigen, um sie anschließend kleinen Löchern im Erdreich zuzuführen. Nur dass Tu am Tag, da er erstmalig einen Golfplatz betrat, eine Art Heimkehr erlebt haben muss. Sein Spiel ist erhaben über Attribute wie gekonnt und elegant. Tu hat von Anfang an gespielt, wie Neugeborene schwimmen. Er ist das Spiel.
    Ergeben sieht Jericho zu, wie sein Freund den Ball auf eine perfekte Parabel schickt. Tu verharrt einige Sekunden in Abschlagposition, dann lässt er die Big Bertha mit hochzufriedener Miene sinken.
    »Du erwähntest einen Gefallen«, sagt Jericho.
    »Wie?« Tu kraust die Stirn. »Ach so, nichts Wildes. Du weißt schon.«
    Er setzt sich in Bewegung und heftet sich zügig auf die Fährte seines Balles. Jericho marschiert neben ihm her. Nichts weiß er, aber er ahnt, was kommen wird.
    »Was ist sein Problem?«, fragt er ins Blaue hinein. »Oder ihres?«
    »Seines. Ein Freund. Sein Name ist Chen Hongbing.« Tu grinst. »Aber dieses Problem musst du für ihn nicht lösen.«
    Jericho weiß um die gallige Komponente der Bemerkung. Der Name ist ein übler Scherz, über den vor allem die nicht lachen können, mit denen er getrieben wurde. Chen ist aller Wahrscheinlichkeit nach Ende der Sechziger des vergangenen Jahrhunderts geboren worden, als die Roten Garden das Land mit Terror überzogen und

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