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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Neugeborene zum Ruhme der Revolution und des Großen Vorsitzenden Mao die absonderlichsten Namen erhielten: keine Seltenheit, dass jemand im Alter, da er den Urin noch nicht halten konnte, schon »Nieder mit Amerika« hieß oder »Ehre dem Vorsitzenden« oder »Langer Marsch«.
    Tatsächlich war die Angst der eigentliche Namensgeber. Es galt sich zu arrangieren. Bevor die Volksbefreiungsarmee den Rotgardisten 1969 ein blutiges Ende setzte, herrschte Ungewissheit, wer in China künftig den Ton angeben würde. Drei Jahre zuvor war Mao Zedong in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens gleichsam zu den Sterblichen hinabgestiegen, hatte sich einen roten Fetzen um den Ärmel wickeln lassen und sich damit symbolisch an die Spitze der Garden gestellt, eines Millionen zählenden Haufens vornehmlich pubertierender Fanatiker, entwichen aus Schulen und Universitäten, die ihre Lehrer kahl schoren, prügelten und durch die Straßen trieben wie Esel, weil jeder, der die einfachsten Dinge wusste und nicht Bauer oder Arbeiter war, als intellektuell und damit subversiv galt. Erst im Frühjahr 1969 endete der Spuk – dieser zumindest, denn die sogenannte Viererbande rasselte im Hintergrund vernehmlich mit den Ketten. Die Rotgardisten aber wanderten den Weg ihrer Opfer und fanden sich in Umerziehungslagern wieder, wodurch es nach Meinung vieler Chinesen nur noch schlimmer wurde. Jiang Qing, Maos Frau, delirierte über Kulturopern und lief sich warm für einige der schlimmsten Gräuel in Chinas Geschichte. Doch wenigstens begann sich die Namensgebung zu normalisieren.
    Chen, schätzt Jericho, hat irgendwann zwischen 1966 und 1969 das Licht der Welt erblickt: eine Zeit, in der sein Name ungefähr so selten war wie Raupen im Salat. Hongbing heißt wörtlich »Roter Soldat«.
    Tu schaut in die Sonne.
    »Hongbing hat eine Tochter.« Es klingt, als sei alleine dieser Umstand der Geschichtsschreibung wert. Seine Augen leuchten, dann ruft er sich zur Ordnung. »Sie ist sehr hübsch und leider auch sehr leichtsinnig. Vor zwei Tagen ist sie spurlos verschwunden. Im Allgemeinen vertraut sie mir, ich bin versucht zu sagen, sie vertraut mir mehr als ihrem Vater. Nun ja. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie verschwindet, aber früher pflegte sie sich abzumelden. Bei ihm, bei mir oder wenigstens bei einem ihrer Freunde.«
    »Was sie diesmal vergessen hat.«
    »Oder sie hatte keine Gelegenheit. Hongbing macht sich die fürchterlichsten Sorgen, übrigens zu Recht. Yoyo neigt dazu, die falschen Leute anzupissen. Oder sagen wir ruhig, die richtigen.«
    Damit hat Tu das Problem auf seine Art umrissen. Jericho schürzt die Lippen. Ihm ist klar, was von ihm erwartet wird. Außerdem hat der Name Yoyo irgendetwas in ihm ausgelöst.
    »Und ich soll das Mädchen suchen?«
    »Du würdest mir einen Dienst erweisen, wenn du Chen Hongbing empfängst.« Tu erblickt freudig seinen Ball und schreitet zügiger aus. »Natürlich nur, falls du eine Möglichkeit dazu siehst.«
    »Was genau hat sie denn verbrochen?«, fragt Jericho. »Yoyo, meine ich.«
    Der andere tritt neben das weiße Etwas im kurz gestutzten Gras, sieht Jericho in die Augen und lächelt. Sein Blick sagt, dass er jetzt einlochen möchte. Jericho lächelt zurück.
    »Sag deinem Freund, es wird mir eine Ehre sein.«
    Tu nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Er nennt Jericho ein zweites Mal xiongdi und widmet seine ungeteilte Aufmerksamkeit Putter und Ball.
     
    Chinesen der jüngeren Generation spielten das Spiel kaum noch. Ihr Tonfall hatte sich globalisiert. Wollte man etwas voneinander, kam man im Allgemeinen ohne Umschweife zur Sache. Mit Chen Hongbing verhielt es sich eindeutig anders. Sein gesamter Habitus wies ihn als Vertreter eines älteren China aus, in dem man aus tausenderlei Gründen das Gesicht verlieren konnte. Jericho war einen Moment unschlüssig, dann kam ihm ein Gedanke, wie er die Situation für Chen wieder glattbügeln konnte. Er bückte sich, kramte ein Teppichmesser aus dem Werkzeugkasten neben dem Schreibtisch und begann mit raschen Schnitten, die Noppenfolie von einem der Sessel zu lösen.
    Chen hob entsetzt beide Hände.
    »Ich bitte Sie! Es ist mir über alle Maßen peinlich –«
    »Muss es nicht«, sagte Jericho fröhlich. »Offen gesagt, ich spekuliere auf Ihre Hilfe. Im Werkzeugkasten ist ein zweites Messer. Was halten Sie davon, wenn wir uns zusammentun und der Bude zu ein bisschen Wohnlichkeit verhelfen?«
    Es war ein Überfall. Zugleich bot er Chen einen

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