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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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diesmal auch Tu nichts wusste.
    »Nun, wir waren verabredet«, fuhr er fort. »Vorgestern zum Mittagessen in der Liaoning Lu. Ich habe über eine Stunde gewartet, aber sie ist nicht erschienen. Zuerst dachte ich, es sei wegen des Streits, und dass sie immer noch verärgert ist, aber dann –«
    »Sie haben sich gestritten?«
    »Wir sind uns eine Weile aus dem Weg gegangen, nachdem sie mich mit den Umständen ihres Auszugs konfrontiert hatte, vor zehn Tagen, einfach so. Weder hielt sie es für nötig, meinen Rat in dieser Sache einzuholen, noch wollte sie sich von mir helfen lassen.«
    »Sie waren damit nicht einverstanden?«
    »Der Schritt erschien mir überhastet, und das habe ich ihr auch gesagt. In aller Deutlichkeit! Dass es nicht die geringste Veranlassung gibt. Dass sie bei mir allemal besser aufgehoben ist als in dieser Räuberhöhle, in der sie sich seit Jahren herumtreibt. Dass sie sich keinen Gefallen tut, mit diesen Typen – also, dass es nicht klug ist –« Chen starrte auf den Becher in seiner Hand. Eine Weile herrschte Schweigen. Universen aus Staub entstanden und vergingen im Sonnenlicht. Jerichos Nase juckte, aber er unterdrückte den Reiz zu niesen. Stattdessen versuchte er sich zu erinnern, wo er den Namen Yoyo Chen bereits gelesen hatte.
    »Yoyo hat viele Talente«, fuhr Chen leise fort. »Vielleicht habe ich sie tatsächlich zu sehr eingegrenzt. Aber mir blieb keine Wahl. Sie erregte den Unwillen prominenter Kreise, es wurde immer gefährlicher. Schon vor fünf Jahren hat man sie – weil sie meinen Rat nicht beherzigt hatte.«
    »Was hatte sie verbrochen?«
    »Verbrochen? Sie hatte meine Warnungen in den Wind geschlagen.«
    »Ja, ich weiß. Das ist kein Verbrechen. Weswegen hat man sie festgenommen?«
    Chen blinzelte misstrauisch.
    »So explizit habe ich das nicht formuliert.«
    Jericho runzelte die Stirn. Er beugte sich vor, legte die Fingerspitzen aufeinander und sah Chen direkt in die Augen.
    »Hören Sie. Ich will Sie keinesfalls drängen. Aber so kommen wir nicht weiter. Sie werden kaum hier sein, um mir zu erzählen, die Partei habe Yoyo einen Orden umgehängt, also reden wir Klartext. Was hat sie getan?«
    »Sie hat –« Chen schien nach einer Formulierung zu suchen, in der Begriffe wie Regimekritik nicht auftauchten.
    »Darf ich eine Vermutung äußern?«
    Chen zögerte. Dann nickte er.
    »Yoyo ist eine Dissidentin.« Jericho wusste, dass es so war. Wo zum Teufel hatte er ihren Namen gelesen? »Sie kritisiert das System, wahrscheinlich im Internet. Das tut sie seit Jahren. Verschiedentlich wurde sie damit auffällig, aber bis vorgestern lief die Sache glimpflich ab. Jetzt ist möglicherweise etwas passiert. Und Sie machen sich Sorgen, dass Yoyo verhaftet wurde.«
    »Sie hat gesagt, ich sei der Letzte, der ihr deswegen Vorhaltungen machen dürfe«, flüsterte Chen. »Dabei habe ich nur versucht, sie zu schützen. Wir hatten deswegen Streit, viele Male haben wir uns gestritten, und sie hat mich angeschrien. Sie sagte, es sei aussichtslos, ich ließe niemanden an mich heran, nicht mal die eigene Tochter, und wie ausgerechnet ich – Sie sagte, ich predige wie der Hahn, der gegen das Krähen wettert.«
    Jericho wartete. Chens Mimik verhärtete sich.
    »Aber das sind keine Geschichten, mit denen ich Sie behelligen möchte«, schloss er. »Tatsache ist, dass ich seit zwei Tagen ohne Lebenszeichen von ihr bin.«
    »Vielleicht ist alles viel harmloser, als Sie denken. Es wäre nicht das erste Mal, dass Kinder nach einem Streit verschwinden. Sie kriechen bei Freunden unter, stellen sich eine Weile tot, einfach um ihren Eltern eine Lektion zu erteilen.«
    Chen schüttelte den Kopf. »Yoyo nicht. Sie würde einen Streit niemals zum Anlass nehmen, so etwas zu tun.«
    »Sie sagten selbst, Sie kennen Ihre Tochter zu wenig –«
    »Diesbezüglich kenne ich sie ganz gut. In vielen Dingen sind wir einander ähnlich. Yoyo hasst Kinderkram.«
    »Haben Sie bei den Behörden nachgefragt?«
    Chen ballte die Hände zu Fäusten. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. Jericho wusste, dass sie sich dem springenden Punkt näherten, dem eigentlichen Grund, warum Tu seinen Freund hergeschickt hatte.
    »Sie haben doch nachgefragt – oder?«
    »Nein, das habe ich nicht!« Chen schien die Worte zu kauen, bevor er sie ausspuckte. »Ich kann es nicht! Ich kann nicht bei den Behörden nachfragen, ohne sie möglicherweise auf Yoyos Spur zu hetzen.«
    »Es ist also nicht sicher,

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