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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Waren auf dem Gehsteig ausgebreitet, Läden und Türen geöffnet, sodass der Wohnraum zugleich die Funktion des Lagers und Verkaufsraums übernahm, oder das ganze Haus schlicht zur Straßenküche umfunktioniert. Praktisch alles stand zum Verkauf: Haushaltsartikel, Heilkräuter, Wurzeln, um die Libido zu stärken, Extrakte gegen böse Geister, Souvenirs für Touristen, die sich per Zufall hierher verirrten und Plastikbuddhas nicht von antiken unterscheiden konnten. Kessel dampften an jeder Ecke, eine Melange aus Bratfett und Brühe durchzog die Gassen. Keineswegs unangenehm, wie Jericho sich erinnerte, als er kurz nach seiner Ankunft hindurchgeschlendert war. Manches, was gegen ein paar Münzen den Besitzer wechselte, hatte ausgesprochen gut geschmeckt.
    Dennoch war ein Leben erbärmlich zu nennen, wenn es Menschen zwang, sich zu zehnt eine einzige chronisch verstopfte Toilette zu teilen, sofern ihr Haus den Luxus einer Toilette überhaupt bereithielt. Folgerichtig, als die Immobiliengesellschaften und Vertreter der Baubehörde mit ihren Offerten eingefallen waren, hätte man kollektives Entzücken erwarten sollen. Von hellen Wohnungen war die Rede gewesen, von elektrischen Herden und Duschen. Doch kein Paar Augen hatte den Glanz der sanitären Verheißung gespiegelt. Weder regte sich Freude noch Widerstand. Sie hatten die Verträge unterzeichnet, einander angeschaut und gewusst, dass ihre Zeit gekommen war. Dieses Leben würde sein Ende finden, aber immerhin war es eines gewesen. Die einfachen Häuser hatten bessere Zeiten gesehen, bevor China Anfang der Neunziger auf der Wirtschaftsgeraden beschleunigt hatte. Sie waren heruntergekommen, sicher, aber mit etwas gutem Willen konnte man sie Heimat nennen.
    Monate später war Jericho dorthin zurückgekehrt. Zuerst hatte er an einen Bombenangriff geglaubt. Ein Heer von Arbeitern war damit befasst gewesen, das Viertel dem Erdboden gleichzumachen. Seine anfängliche Überraschung hatte sich zu ungläubigem Erstaunen gewandelt, als ihm aufging, dass gut die Hälfte der Bewohner immer noch dort lebte und ihrer gewohnten Beschäftigung nachging, während ringsum Abrissbirnen pendelten, Mauern in sich zusammenfielen und Kipplaster tonnenweise Schutt abtransportierten.
    Er hatte wissen wollen, was mit den Menschen geschehen würde, wenn das komplette Viertel verschwunden war.
    »Sie ziehen um«, ließ ihn einer der Bauarbeiter wissen.
    »Und wohin?«
    Die Antwort war der Mann schuldig geblieben und Jericho bestürzt durch das Viertel gestrichen, während die Dunkelheit herankroch und ein amputierter Nachtmarkt in Szene gesetzt wurde, dessen Protagonisten das Zerstörungswerk hartnäckig zu leugnen schienen. Wen immer er fragte, versicherte ihm gleichmütig bis freundlich, es sei halt so, wie es sei. Nach einer Weile war Jericho zu der Überzeugung gelangt, alleine am breiten Shanghaier Dialekt könne es nicht liegen, dass er immer nur einen Satz verstand, die standardisierte Reaktion auf jegliche Art von Katastrophen und Ungerechtigkeiten. Mei you banfa: Da kann man nichts machen.
    Nach Einbruch der Nacht wurden ein paar Leute gesprächiger. Eine rundliche ältere Dame, die köstliche kleine Klöße in Brühe zubereitete, rechnete Jericho vor, dass die Abfindung der Baubehörde bei Weitem nicht ausreiche, um eine neue Wohnung zu kaufen. Ebenso wenig reiche sie, um dauerhaft eine zu mieten. Eine zweite Frau, die dazukam, wusste zu berichten, man habe jedem der Bewohner anfangs eine weit höhere Summe geboten, aber niemand habe das Geld in versprochener Höhe erhalten. Ein junger Mann erwog, dagegen zu klagen, was die rundliche Dame mit einer matten Handbewegung abtat. Ihr Sohn habe schon viermal geklagt. Jede Klage sei abgewiesen worden, aber beim vierten Mal habe man ihn eine Woche lang in eine Zelle gesperrt und ihm hernach unter Verabreichung von Fußtritten den Weg gewiesen.
    Am Ende hatte Jericho das Viertel so ratlos verlassen wie er gekommen war. Nun war er ein drittes Mal zurückgekehrt, und nichts deutete darauf hin, dass hier jemals etwas anderes gestanden hatte als Türme mit Klimaanlagen vor den Fenstern. Die Häuser waren durchnummeriert, aber in der hereinbrechenden Dämmerung verschwammen die Zahlen auf dem Untergrund. Irgendein Idiot hatte es schick gefunden, sie mit Pastell auf Pastell zu malen, riesig zwar, aber unter diffusen Lichtverhältnissen ebenso wenig zu erkennen wie Schneehasen im Schnee. Jericho machte sich nicht die Mühe, die Straßen

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