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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Echtzeit-Realität kombinieren musste. Gegen komplexe, bewegliche Hintergründe wirkten sie durchscheinend. Vollends ging die Illusion verloren, sobald reale Menschen den Raum durchquerten, an dem sich der Avatar augenscheinlich befand. Sie gingen einfach durch ihn hindurch. Fröhlich drauflosschwatzende virtuelle Kumpane fanden nichts dabei, während ihres Vortrags von Schwerlastern durchquert zu werden. Vollführte man schnelle Kopfbewegungen, schwebten sie geisterhaft hinterher. Unablässig musste das System die reale Umgebung hochrechnen und mit dem Programm synchronisieren, um Schein und Sein miteinander in Einklang zu bringen, ein bislang zum Scheitern verurteiltes Vorhaben.
    Yoyo allerdings erschien einen simulierten Meter neben Jericho auf dem Gehsteig, ohne die phantomhaften Merkmale anderer Avatare erkennen zu lassen. Sie trug einen eng anliegenden, himbeerfarbenen Catsuit, dezente Applikationen, hatte das Haar zu einem doppelten Pferdeschwanz zusammengebunden und helles Make-up aufgelegt.
    »Guten Morgen, Herr Jericho«, sagte sie und lächelte.
    Hinter ihr eilten Fußgänger vorbei. Yoyo verdeckte sie. Nichts an ihr wirkte transparent, nirgendwo ließen sich Unschärfen ausmachen. Sie trat vor ihn hin und sah ihm geradewegs in die Augen.
    »Wollen wir uns das französische Viertel ansehen?« Der Brillenbügel leitete den Klang ihrer Stimme über den Schläfenknochen in Jerichos Ohr.
    »Etwas lauter«, sagte er.
    »Gerne«, erklang Yoyos Stimme, nun eine Spur kräftiger. »Wollen wir uns das französische Viertel ansehen? Das Wetter ist perfekt, keine Wolke am Himmel.«
    Stimmte das? Jericho legte den Kopf in den Nacken. Es stimmte.
    »Das wäre schön.«
    »Es ist mir ein Vergnügen. Ich heiße Yoyo.« Sie zögerte und bedachte ihn mit einem Augenaufschlag zwischen Koketterie und Verlegenheit. »Darf ich Sie Owen nennen?«
    »Kein Problem.«
    Faszinierend. Das Programm hatte sich automatisch mit seinem ID-Code verbunden. Es erkannte ihn, rechnete zudem die Tageszeit in die korrekte Grußformel um und analysierte in einem gleich die Wetterlage. Schon jetzt hatten die Leute bei Tu Technologies alles getoppt, was Jericho an Vergleichbarem kannte.
    »Kommen Sie«, sagte Yoyo fröhlich.
    Beinahe erleichtert stellte er fest, dass sie ihm nicht mehr so überirdisch schön erschien wie am Vortag. In Fleisch und Blut, lachend, sprechend und gestikulierend, ging das Entrückte verloren, das er auf Chens verwackelten Videos zu sehen geglaubt hatte. Was blieb, reichte dennoch, um veraltete Herzschrittmacher aus dem Takt zu bringen.
    Moment mal. Fleisch und Blut?
    Bits und Bytes!
    Es war ganz und gar erstaunlich. Sogar den korrekten Schattenstand rechnete der Computer mit ein, als Yoyo vor ihm herging. Er fragte sich nicht länger, wie das Programm das machte, sondern konzentrierte sich auf ihren Gang, ihre Gestik, ihre Mimik. Seine Führerin bog links ab, gesellte sich an seine Seite und richtete den Blick abwechselnd auf ihn und die Straße.
    »Die Si Nan Lu vereint ganz unterschiedliche Baustile, darunter solche aus Frankreich, Deutschland und Spanien. 2018 wurden bis auf wenige Ausnahmen die letzten Originalgebäude abgerissen und neu errichtet. Nach den ursprünglichen Plänen, versteht sich. Jetzt ist alles noch viel schöner und noch viel originaler.« Yoyo lächelte ein Mona-Lisa-Lächeln. »Ursprünglich residierten hier bedeutende Funktionäre der Nationalisten und Kommunisten. Niemand konnte dem großzügigen Charme des Viertels widerstehen, jeder wollte in die Si Nan Lu. Auch Zhou Enlai hat hier eine Weile Hof gehalten. Die schöne, dreigeschossige Gartenvilla links von uns war sein Domizil. Der Stil wird allgemein als französisch bezeichnet, tatsächlich mischen sich hier Elemente des Art-déco mit chinesischen Einflüssen. Die Villa ist eines der wenigen Häuser, die dem Erneuerungsfimmel der Partei bis heute entgehen konnten.«
    Jericho stutzte. War das durch die Zensur gekommen?
    Dann fiel ihm ein, dass Tu von einem Prototypen gesprochen hatte. Also würde der Text modifiziert werden. Er fragte sich, wessen Idee die Unkorrektheit gewesen war. Hatte Tu sich den Spaß ausgedacht, oder hatte Yoyo ihn darauf gebracht?
    »Kann man die Villa besichtigen?«, fragte er.
    »Wir können uns die Villa von innen ansehen«, bestätigte Yoyo. »Das Interieur ist weitgehend unverändert. Zhou pflegte einen spartanischen Lebensstil, schließlich war er dem Proletariat verpflichtet. Vielleicht hatte er auch einfach

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