Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
sich in seinem Loft ein Tor zur Nacht aufgetan. Er hatte den Vergrößerungsfaktor gut eingeschätzt. Yoyo manifestierte sich allenfalls drei oder vier Zentimeter größer, als sie tatsächlich war, und das Bild blieb gestochen scharf. Ein System, das über eine Straße hinweg die Struktur einer Iris erkannte, hatte nicht von ungefähr den Spitznamen Porenzähler. Jericho wusste, dass dieser Blick vorerst das Letzte sein würde, was er von Yoyo zu sehen bekam, also versuchte er, darin zu lesen.
    Du hast Angst, dachte Jericho. Aber du verbirgst sie gut.
    Außerdem bist du zu allem entschlossen.
    Er trat zurück. Yoyo trug helle Jeans, kniehohe Stiefel, ein bedrucktes T-Shirt, das ihr bis über die Hüften reichte, und eine kurze, geblähte Jacke aus Knautschlack, die aussah, als entstamme sie einer der Sprühdosen, die er in ihrem Zimmer gefunden hatte. Der größte Teil der Schrift auf dem Shirt lag im Schatten oder unter dem Knautschlack, nur weniges schaute heraus, wo die Jacke auseinanderfiel. Er würde sich später damit beschäftigen.
    »Such diese Person im Ordner Yoyofiles«, sagte er. »Übereinstimmung 90 Prozent.«
    Sofort erhielt er die Antwort: 76 Übereinstimmungen. Er überlegte, ob er sich all diese Überwachungsfilme zeigen lassen sollte, stattdessen wies er den Computer an, die Koordinaten der Aufnahmen auf einen Stadtplan von Shanghai zu übertragen. Einen Wimpernschlag später erschien der Plan auf der Wand, versehen mit Yoyos Route, dem Weg, den sie in der Nacht ihres Verschwindens genommen hatte. Die letzte Aufnahme war schräg gegenüber dem Demon Point erfolgt, der kleinen Werkstatt für Hybrid- und E-Bikes. Von da an verlor sich ihre Spur. Sie war in der vergessenen Welt.
     
    Dass Yoyo Chancen hatte, in Quyu unentdeckt zu bleiben, verdankte sich dem Umstand, dass es dort kaum Überwachungssysteme gab. Dennoch war Quyu kein Slum im klassischen Sinne, nicht gleichzusetzen mit den wuchernden Wundrändern, die Kalkutta, Mexiko City oder Bombay umgaben und infektiös aufs Land übergriffen. Shanghai als Global City vom Range New Yorks brauchte Quyu in gleichem Maße wie der Big Apple die Bronx, was zur Folge hatte, dass die Stadt die Gegend in Ruhe ließ. Weder fiel sie mit Bulldozern dort ein noch führte sie Razzien durch. In den Jahren nach dem Millennium hatte man die Altstädte und Elendsviertel der Innenbezirke Shanghais systematisch abgerissen, bis die Gebiete frei von authentischer Geschichte dalagen. Wo der Außenbezirk Boashan an diesen inneren Kern grenzte, war Quyu herangewachsen, und man hatte es wachsen lassen, so wie man das Entstehen einer Wildnis zuließ, um sich das Geld für den Gärtner zu sparen. Nordwestlich des Huangpu markierte Quyu nunmehr den Übergang zu Arealen provisorischer Siedlungen, Rudimenten von Dörfern, verfallenen Kleinstadtzentren und aufgelassenen Industriegebieten – ein Moloch, der mit jedem Jahr weiter um sich griff und den letzten Rest einer Region verschluckte, die einmal als ländlich gegolten hatte.
    Im Innern autark, von außen bewacht wie ein Gefängnis, bot Quyu eines der erstaunlichsten Beispiele für die Urbanisierung von Armut im 21. Jahrhundert. Die Bevölkerung setzte sich zusammen aus Menschen, die ihre ursprünglichen Viertel im Herzen Shanghais hatten verlassen müssen und hierher umgesiedelt worden waren, Bewohnern ehemaliger, von Quyu absorbierter Gemeinden, Migranten aus armen Provinzen, angelockt von den Verheißungen der Globalopolis und mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung, die nie jemand kontrollierte, Heerscharen illegaler, behördlich inexistenter Arbeiter. Jeder in Quyu war arm, einige allerdings weniger arm als andere. Das meiste Geld wurde im Drogenhandel und in der Vergnügungsbranche verdient, die vornehmlich Prostitution umfasste. Eine in jeder Hinsicht informelle Gesellschaft bevölkerte Quyu, durchweg ohne Krankenversicherung, ohne Anspruch auf Altersversorgung oder Arbeitslosenunterstützung.
    Dennoch mehr als ein Volk von Bettlern.
    Denn die meisten hatten ja Arbeit. Sie standen an Fließbändern und auf Baugerüsten, hielten Parks und Straßen sauber, lieferten Waren aus und reinigten die Wohnungen der Begüterten. Wie Geister erschienen sie in der registrierten Welt, machten ihren Job und entmaterialisierten sich, sobald sie nicht mehr gebraucht wurden. Sie waren arm, weil jeder, der in Quyu lebte, binnen 24 Stunden ersetzt werden konnte. Sie blieben es, weil sie der Definition des greisen Bill Gates zufolge Teil

Weitere Kostenlose Bücher