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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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anzog, weil sie ihnen etwas offerierte, das im runderneuerten Shanghai sonst nirgendwo mehr zu finden war: das faszinierende, vielfarbige Schillern menschlicher Fäulnis.
    Quyu, die Zone, die vergessene Welt. Der perfekte Ort, wenn man spurlos verschwinden wollte.
    Die kleine Motorradwerkstatt lag nicht direkt in Quyu, aber nahe genug dran, um als Ein- oder Ausfalltor zu fungieren. Jericho seufzte. Er sah sich zu einem Schritt gezwungen, der ihm nicht gefiel. Immer mal wieder, so wie neulich, arbeitete er mit Shanghais Polizei zusammen. Man pflegte gute Beziehungen. Ob die Beamten ihm bei seinen eigenen Fällen halfen, hing davon ab, ob sie in der Spionage- oder Korruptionsaffäre, die Jericho gerade untersuchte, Karten hatten oder nicht. Schulter an Schulter stand man hingegen im Kampf gegen Monster wie Animal Ma Liping. Nicht erst, seit er den Kinderschänder hatte hochgehen lassen, erfreute er sich in Behördenkreisen steigenden Respekts. Im Rahmen gemeinsamer Besäufnisse hatten Beamte durchscheinen lassen, ihn bei Bedarf mit Informationen versorgen zu wollen, und seit dem Albtraum in Shenzhen war ihm Patrice Ho, sein hochrangiger Freund bei der Polizei, einen größeren Gefallen schuldig, explizit bezogen auf Einblick in polizeiliche Datenbanken. Nur zu gerne hätte Jericho die Gefälligkeit nun eingefordert, doch wenn Yoyo tatsächlich von den Behörden gesucht wurde, war daran kein Denken.
    Und das bedeutete, dass er sich hineinhacken musste.
    Zweimal hatte er es gewagt. Zweimal war es gelungen.
    Damals hatte er sich geschworen, es kein drittes Mal zu versuchen. Er wusste, was ihm blühte, sollte man ihm auf die Schliche kommen. Nachdem sich Peking 2007 in europäische und amerikanische Regierungsnetze gehackt hatte, war der Westen zum Gegenangriff übergegangen, unterstützt durch russische und arabische Hacker, die in eigener Sache mitmischten. Inzwischen fürchtete China kaum etwas mehr als Cyberattacken. Entsprechend fand, wer chinesische Systeme infiltrierte, keine Gnade.
    Mit widerstreitenden Gefühlen machte er sich an die Arbeit.
    Kurze Zeit später besaß er Zugriff auf diverse Archive. Nahezu jeder Bereich der Stadt war mit Scannern versehen, die sich in Hauswänden, Ampeln und Schildern verbargen, in Türgriffen und Klingelschildern, in Werbetafeln, Etiketten und Spiegeln, Armaturen und Haushaltsgeräten. Sie lasen die Netzhaut, erfassten biometrische Daten, analysierten Gang und Gestik, zeichneten Stimmen und Geräusche auf. Während das Lauschsystem nach dem amerikanischen Vorbild der NSA schon vor Jahrzehnten perfektioniert worden war, stellte die Netzhautanalyse ein vergleichsweise neues Phänomen dar. Auf viele Meter Entfernung erkannten Scanner die individuelle Struktur der menschlichen Iris und wiesen die Daten ihrem Besitzer zu. Mikroskopisch kleine Richtmikrofone filterten Frequenzen aus dem Lärmpegel einer belebten Kreuzung heraus, bis man Personen in aller Klarheit sprechen hörte. In der Auswertung lag die eigentliche Kunst der Überwachung. Das System erkannte gesuchte Menschen anhand ihrer Bewegungsmuster, erkannte ihr Gesicht, selbst wenn sie künstliche Bärte anklebten. Ein einziger Blick Yoyos in einen der allgegenwärtigen Scanner genügte zur Identifizierung ihrer Netzhaut, die erstmals bei ihrer Geburt datentechnisch erfasst worden war, ein weiteres Mal bei der Einschulung, dann, als sie sich an der Uni eingeschrieben hatte, schließlich bei ihrer Verhaftung und bei ihrer Entlassung.
    Jerichos Computer begann zu rechnen.
    Er analysierte jedes Zucken in Yoyos Augenwinkeln, tauchte ein in die kristalline Struktur ihrer Iris, maß den Grad, mit dem ihre Mundwinkel sich hoben, wenn sie lächelte, erstellte Studien der Bewegungsmuster in ihren Haaren, wenn der Wind hindurchfuhr, skalierte ihren Hüftschwung, die Spreizung ihrer Finger im Moment des Arme-Schlenkerns, die Stellung des Handgelenks, wenn sie auf etwas zeigte, ihre durchschnittliche Schrittlänge. Yoyo verwandelte sich in ein Geschöpf aus Gleichungen, einen Algorithmus, den Jericho in die phantomhafte Welt der behördlichen Überwachungsarchive entsandte in der Hoffnung, dort seiner Entsprechung zu begegnen. Den Suchzeitraum schränkte er auf die Zeit unmittelbar nach ihrem Verschwinden ein, dennoch meldete das System mehr als zweitausend Übereinstimmungen. Er lud die gestohlenen Daten auf seine Festplatte, speicherte sie unter Yoyofiles und klinkte sich schleunigst aus. Sein Eingreifen war unbemerkt geblieben. Zeit,

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