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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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eigentlich sah sie sich unentwegt durch seine Augen, schon als Kind hatte sie sich zum Sonnenlicht seiner Gunst hin verwachsen –, erschrak sie vor der Frau mit dem meerblauen Blick, die Julian seine Tochter nannte. Das war nicht sie. Wie also konnte sie ihm vertrauen, da er offenbar keinerlei Kenntnis hatte von dem puppenhaften, in ständiger Metamorphose begriffenen Ungeheuer, diesem Klumpen anpassungsfähigen Gewebes, als den sie sich selbst empfand?
    »An welche Person denkst du gerade?«, fragte ISLAND-II.
    »An meinen Vater. An Julian Orley.«
    »Julian Orley ist dein Vater?«, rückversicherte sich das Programm.
    »Ja.«
    »Er ist nicht die Person, der du vertraust.«
    Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Mann ihr gegenüber beugte sich vor. Lynn atmete schwer, und die Sensoren in ihrem T-Shirt vermerkten gewissenhaft auch diesen Atmer und leiteten ihn an die Datenbank weiter. Scanner und Stressmelder erfassten Körpertemperatur, Puls, Herzrhythmus und jegliche neuronale Aktivität, unterwarfen ihre Äußerungen einer Frequenzanalyse, bilanzierten Mimik, Weitung und Kontraktion ihrer Pupillen, Motorik der Augenmuskulatur, Ausperlungen von Schweiß. In jeder Sekunde, die sie vermessen wurde, bereicherte Lynn ISLAND-II um Informationen, die das Programm befähigten, Aussagen über sie zu treffen.
    Der Mann schien einen Augenblick nachzudenken. Dann lächelte er ihr aufmunternd zu. Er war von kräftigem Wuchs, vollkommen kahl, mit freundlichen, nachdenklich blickenden Augen, die Lynns Zwiebelnatur, das Diorama ihrer Verstellung, Schicht für Schicht zu durchdringen schienen, indes ohne die invasive Kühle, mit der Psychologen ihre Patienten oft mikroskopierten.
    »Gut, Lynn. Bleiben wir bei den Menschen, die zurzeit um dich herum sind. Nenne mir nacheinander die Namen derjenigen Personen, denen du dich nahe fühlst. – Und lass nach jedem Namen ein paar Sekunden verstreichen.«
    Sie betrachtete ihre Fingernägel. Mit ISLAND-II zu kommunizieren war, als balanciere man in der Dunkelheit einem unbekannten Ziel entgegen – auf dem Strahl einer Taschenlampe. Der Trick bestand darin, sich als ebenso virtuell zu begreifen. Das Beste daran war, dass man sich nicht blamieren konnte. So hatte Lynn keinerlei Ahnung, ob dem Kahlköpfigen eine reale Person zugrunde lag, fest stand, dass es ihm unmöglich war, sie für ihre Sorgen zu verachten. Tatsächlich war ISLAND-II, voll ausgeschrieben Integrated System for Listening and Analysis of Neurological Data, nur insofern menschlich, als es von Therapeuten programmiert worden war.
    »Julian Orley«, wiederholte Lynn, obschon das Programm ihn bereits von der Liste ihrer Vertrauenspersonen gestrichen hatte, und legte gehorsam eine kurze Pause ein. »– Tim Orley – Amber Orley – Evelyn Chambers – das sind sie, glaube ich.«
    Evelyn? Vertraute sie Amerikas mächtigster Talklady? Andererseits, warum nicht? Evelyn war eine Freundin, auch wenn sie wenig miteinander gesprochen hatten seit Beginn der Reise. Doch die Frage hatte gelautet, wem sie sich nahe fühlte. War Nähe gleichbedeutend mit Vertrauen?
    Der Mann schaute sie an.
    »Ich habe während der letzten Viertelstunde viel über dich erfahren«, sagte er. »Du hast Angst. Weniger infolge realer Bedrohungen als vielmehr vor deinen Gedanken, mit denen du dich selbst in Schrecken versetzt. Während du das tust, hörst du auf, dich zu fühlen. Der Verlust des Fühlens stürzt dich in die Hölle der Depression, schlimmere Ängste sind die Folge, allen voran die Angst vor der Angst. Unglücklicherweise wächst sich in dieser Stimmung jeder deiner Gedanken zu einem Monster aus, sodass du dem Irrtum erliegst, die Inhalte deiner Gedanken seien für deinen Zustand verantwortlich. Also versuchst du, sie auf inhaltlicher Ebene loszuwerden, und bewirkst das genaue Gegenteil. Je ernster du die vermeintlichen Monster nimmst, desto übermächtiger blähen sie sich auf.«
    Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
    »Doch tatsächlich sind die Inhalte austauschbar. Nicht der Inhalt erzeugt die Angst. Die Angst erzeugt den Inhalt. Angst ist ein körperliches Phänomen. Dein Herzschlag beschleunigt sich, Druck legt sich auf deine Brust, du verspannst, verhärtest, verkrampfst dich. Aus innerer Weite wird Enge, Unfreiheit und Ohnmacht. Wie ein Tier im Käfig beginnst du zu rasen. Diese körperliche Zusammenziehung, Lynn, ist der Grund, warum du deinen Gedanken eine so übersteigerte Bedeutung beimisst, dass sie

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