Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
Gedanke Buh, und wir erschrecken. Doch wir sind nicht diese Gedanken. Du musst keine Angst haben.«
    »O – okay.«
    Der Mann schwieg eine Weile.
    »Möchtest du weiter über dich sprechen?«
    »Ja. Nein, ein anderes Mal. Ich muss Schluss machen – für diesmal.«
    »Gut. Eines noch. Ich habe dich vorhin gefragt, wem du vertraust.«
    »Ja.«
    »Ich habe deine Reaktionen ausgewertet, während du die Namen nanntest. Meine Empfehlung lautet, dich einem dieser Menschen anzuvertrauen. Sprich mit Tim Orley.«
    Einem Menschen anvertrauen.
    »Danke«, sagte Lynn mechanisch, ohne darüber nachzudenken, ob ISLAND-II Wert auf Höflichkeiten legte. Der kahlköpfige Mann lächelte.
    »Komm wieder, wenn du möchtest.«
    Sie schaltete ihn ab, entfernte die Sensoren von ihrer Stirn, tauschte das T-Shirt gegen ihr eigenes. Eine Weile starrte sie auf die leere Glasscheibe, unfähig aufzustehen, wo aufstehen doch nirgendwo einfacher war als auf dem verdammten Scheißmond.
    War es klug gewesen, hierherzukommen? Sich vor einen Spiegel zu zerren, in den sie partout nicht schauen wollte? Bekanntlich lieferte ISLAND-II verblüffende Resultate. Inzwischen war eine regelmäßige psychologische Betreuung aus der bemannten Raumfahrt nicht mehr wegzudenken. Hatte man während der heldenverliebten Siebziger eher die leibhaftige Existenz Dagobert Ducks anerkannt als Depressionen im Weltraum, kreiste in der Ära der Langzeitmissionen alles um das Mysterium der menschlichen Psyche, schon weil niemand gewillt war, sündhaft teure Unternehmungen wie die anstehenden Marsmissionen wegen Monk'scher Unpässlichkeiten in den Sand zu setzen. Nicht Meteoriten oder technisches Versagen stellten die größte Gefährdung dar, sondern Panik, Phobien, Rivalenkämpfe und der gute alte Sexualtrieb, was zwingend nach einem Bordpsychologen verlangte. Simulationen wurden durchgeführt, die allerdings nachdenklich stimmten. In zwei von fünf Fällen verlor der Psychologe als Erster die Nerven und begann, die übrigen Mitglieder der Mannschaft in den Wahnsinn zu analysieren. Doch selbst, wenn er die Ruhe behielt, brachte seine Anwesenheit nicht den gewünschten Effekt. Offenbar verschluckten die betroffenen Astronauten lieber ihre Zunge, als sich einem lebenden, urteilenden Wesen anzuvertrauen, Selbstzensur von trostloser Schlüssigkeit: Männer fürchteten um die Karriere, Frauen darum, verachtet zu werden.
    So waren die virtuellen Therapeuten ins Spiel gekommen. Erst einfache Programme, die auf der Grundlage von Fragebögen Kalenderblattratschläge erteilten, später Rollenspiele, schließlich komplexe dialektische Software. Nichts ging über eine Videoplauderei mit Freunden und Verwandten, doch was tun auf dem Mars, wo solche Schaltungen kaum herzustellen waren? Am Ende hatten renommierte Cybertherapeuten ein Programm entwickelt, das die Vorzüge ausgefeilter Dialogtechniken mit der simultanen Auswertung des umfangreichsten Datenbestands vereinte, der je einer künstlichen Intelligenz zur Verfügung gestanden hatte. Skeptiker reklamierten die individuelle Bedürfnisstruktur jedes einzelnen Menschen, die nur von einem Menschen erfasst werden könne, doch die Praxis ließ auf das Gegenteil schließen. Durch wie viele Türen man die labyrinthische Seele auch betreten mochte, nach einer Weile des Umherirrens gelangte man auf vertrautes Terrain. Es gab keine Millionen psychologischer Leitmotive, nur die millionenfache Paraphrasierung weniger Grundmuster. Letztlich landete man bei den immer selben Neurosen, Verstrickungen und Traumata, und das meiste war akuter Natur, etwa wer wem den letzten Schokoladenpudding weggegessen hatte. Inzwischen bewährte sich ISLAND-I in Raumstationen, abgelegenen Forschungscamps und Konzernzentralen rund um den Globus, während das ungleich fortgeschrittenere ISLAND-II bislang nur im Meditations- und Therapiezentrum von Gaia wirkte: ein selbst seinen Programmierern rätselhaftes Pseudogeschöpf, unbeseelt vom promethischen Funken, jedoch befähigt, in unfassbarer Geschwindigkeit zu lernen und Schlüsse zu ziehen.
    Nach einer Weile brachte Lynn endlich die Energie auf, das Zentrum zu verlassen. Auf dem Weg in die Lobby vollzog sich die Umgestaltung ihrer Mimik zu heiterer Gestimmtheit. Euphorisierte Gäste kreuzten ihren Weg, zappelig, kinderäugig, zurückgekehrt von Ausflügen in die Lavahöhlen des Moltkekraters, vom Gipfel des Mons Blanc, vom Grund des Vallis Alpina. Wortreich wurde von der Missionierung des Universums durch Tennis und

Weitere Kostenlose Bücher