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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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dich überhaupt erst in die Hölle schicken können. Es ist wichtig, dass du diesen Mechanismus durchschaust. Denn mehr ist es nicht. Sobald es dir gelingt, dich zu entspannen, durchbrichst du den Teufelskreis. Je intensiver du dich spürst, desto weniger können dich deine Gedanken quälen. Am Beginn jeder Therapie steht darum die Kräftigung des Körpers. Sport, viel Sport. Bewegung, Seitenstechen, Muskelkater. Schärfung der Sinne. Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten. Raus aus der Projektion, hinein in die wirkliche Welt. Atmen, Körper spüren. – Hast du Fragen dazu?«
    »Nein. Doch.« Lynn knetete ihre Hände. »Ich verstehe, was du meinst, aber – aber es – es sind ja sehr konkrete Ängste. Ich meine, ich sauge mir das doch nicht aus den Fingern! Was ich getan, worauf ich mich eingelassen habe. Mein Denken kreist nur noch um – Zerstörung, um Qualen, um – um den Tod. Den Tod anderer. Töten, quälen, zerstören! – Ich habe entsetzliche Angst, mich in etwas zu verwandeln, das plötzlich aus mir herausbricht, andere anspringt und zerfetzt, Menschen, die ich liebe! Etwas, das mich von innen frisst, bis nur noch meine Hülle übrig ist, und die Hülle birgt etwas Unheimliches und Fremdes, und – ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nicht, wie lange ich diesem Druck noch standhalte –«
    Mit einem Mal schossen ihr Tränen in die Augen, Destillate der Hilflosigkeit. Ihr Kinn zuckte. Von überallher schien Flüssigkeit zu kommen, aus der Nase, aus ihren Mundwinkeln, selbst über die Unterlippe triefte es herab. Der Mann lehnte sich zurück und betrachtete sie unter gesenkten Lidern in Erwartung, dass sie noch etwas hinzufügen werde, doch sie konnte nicht sprechen, nur nach Luft schnappen. Sie wünschte sich, aus der Welt zu verschwinden, zurück in den Mutterleib, nicht in den Crystals allerdings, die ihr zu Lebzeiten keinerlei Halt hatte bieten können, sondern vielmehr das Gift ihrer Schwermut an sie weitergegeben hatte, codiert in ihren Genen. Sie wünschte sich einen Vater, der ihr erklärte, dass sie nur schlecht geträumt habe, aber nicht Julian, der sie zwar in den Arm nehmen und trösten würde, ohne im Mindesten zu begreifen, was ihr Problem war, ebenso wenig wie er Crystals Depressionen und ihren späteren Wahn hatte begreifen können. Dabei war es keineswegs so, dass Julian Schwäche verachtete. Er verstand sie nur einfach nicht! Lynn wünschte sich zurück in den Schutz eines Elternpaars, das es niemals gegeben hatte.
    »Ich stelle sehr hohe Erwartungen an mich«, sagte sie, um einen geschäftsmäßigen Tonfall bemüht. »Und dann – spüre ich die Gewissheit, dass sie zu hoch sind, und hasse mich für meine Unzulänglichkeit – für mein Versagen.«
    Sie fühlte sich transparent werden, schlang die Arme um sich, was nichts an der Empfindung von Transparenz änderte. Sie unterhielt sich mit einem Computer, doch selten war sie sich so nackt vorgekommen.
    »Ich schlage dir eine andere Sichtweise vor«, sagte ISLAND-II nach einer Weile. »Es sind nicht deine Erwartungen. Es sind die Erwartungen anderer, aber du hast sie dir so sehr zu eigen gemacht, dass du glaubst, es wären deine. Also versuchst du, dein Handeln mit diesen Erwartungen in Übereinstimmung zu bringen. Du wertschätzt nicht, wer du bist, sondern wie andere dich gerne hätten. Doch man kann sich auf Dauer nicht verleugnen und entwerten. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja«, flüsterte sie. »Ich glaube schon.«
    Der Blick des Mannes ruhte auf ihr, freundlich und analytisch.
    »Was fühlst du jetzt gerade?«
    »Weiß nicht.«
    »Die Person, die du bist, weiß es. Spür der Empfindung nach.«
    »Ich kann nicht«, wimmerte sie. »Ich kann so was nicht. Ich hab keinen Zugang zu – mir.«
    »Du musst dich hier nicht verstellen, Lynn.« Der Mann lächelte. »Nicht vor mir. Vergiss nicht, ich bin nur ein Programm. Wenngleich ein sehr intelligentes.«
    Verstellung? Oh ja! Die Königin der Verstellung war sie, seit den Tagen ihrer Kindheit. Verstellung, antrainiert in stundenlanger Gesellschaft ihres Spiegelbilds, bis sie in der Lage gewesen war, jeden gewünschten Ausdruck auf den Monitor ihres hübschen Gesichts zu projizieren: Zuversicht am Abgrund des Scheiterns, Lässigkeit im Gegenwind der Überforderung, Bluffen mit nichts auf der Hand. Wie rasch sie gelernt hatte, was Wirkung vermochte, wo ausgerechnet der Mann, dem sie am meisten damit zu gefallen suchte, die bloße Idee der Verstellung missbilligte. Doch er

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