Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
durchschaute ihr Rollenspiel nicht, bis sie es selbst nicht mehr durchschaute. Atemlos bemüht, mit ihm Schritt zu halten, entwickelte sie eine tief sitzende Aversion gegen Befindlichkeiten, allen voran ihre eigenen. Sie begann das Larmoyante, triefend Launenhafte ihrer Mitmenschen zu verachten. Seelische Entblößung, zur Schau gestelltes Leid, die Klebrigkeit vorschneller Intimität. Jeden wissen zu lassen, mit welchem Bein man aufgestanden war, teilhaben zu lassen an seiner mentalen Chemie, widerlich. Um wie viel mehr hatte sie die Hygiene der Verstellung bevorzugt. Bis zu jenem Tag vor fünf Jahren, der alles veränderte –
    »Es ist Wut, was du fühlst«, sagte ISLAND-II ruhig.
    »Wut?«
    »Ja. Unbändige Wut. Die eingesperrte Lynn Orley, die endlich ausbrechen und geliebt werden will, und zwar von sich selbst. Diese Lynn hat viele Mauern einzureißen, sie muss sich von vielen Erwartungen befreien. Wunderst du dich, dass sie töten und zerstören will?«
    »Ich will doch nicht töten und zerstören«, weinte sie. »Aber ich kann nicht – ich kann nicht dagegen –«
    »Natürlich willst du es nicht. Nicht physisch. Du wirst niemandem etwas tun, Lynn, hab keine Angst. Du quälst nur einen einzigen Menschen, nämlich dich selbst. Es gibt kein Monster in dir.«
    »Aber diese Gedanken lassen mich nicht los!«
    »Umgekehrt, Lynn. Du lässt die Gedanken nicht los.«
    »Ich versuch's aber doch. Ich versuche doch alles!«
    »Sie werden schwächer werden, je stärker die wahre Lynn wird. Was dir als Verwandlung in ein Monster erscheint, ist in Wirklichkeit der Beginn deiner Neugeburt. Man nennt es auch Emanzipation. Du strampelst, du willst raus. Und natürlich stirbt dabei etwas, nämlich deine alte, dir aufgezwungene Identität. – Sind dir die drei Zwänge der Kindheit bekannt?«
    Lynn schüttelte stumm den Kopf.
    »Sie lauten: Ich muss. Ich darf nicht. Ich sollte. Wiederhole sie bitte.«
    »Ich – muss, darf nicht – sollte –«
    »Wie klingt das?«
    »Beschissen.«
    »Ab heute gelten sie nicht mehr für dich. Du bist nicht mehr das Kind. Ab jetzt gilt nur noch: Ich bin.«
    »I am what I am –« , sang Lynn brüchig. »Und wer bin ich?«
    »Du bist die Zeugin deiner Gedanken und Taten. Das, was bleibt, wenn du die Gesamtheit aller Identitäten, die du für dein Ich hältst, abstreifst, bis nur noch pures Bewusstsein übrig ist. Hast du je das Gefühl gehabt, dass du dir beim Denken zusehen kannst? Dass du sehen kannst, wie Gedanken auftauchen und wieder verschwinden?«
    Lynn nickt schwach.
    »Auch das ist eine wichtige Wahrheit, Lynn. Du bist nicht deine Gedanken! Verstehst du? Du bist nicht deine Gedanken! Nicht identisch mit deinen Vorstellungen von der Welt.«
    »Nein, verstehe ich nicht.«
    »Ein Beispiel. Bist du dir dessen bewusst, dass du die holografische Projektion eines Mannes siehst?«
    »Ja.«
    »Was siehst du noch?«
    »Mobiliar. Den Stuhl, auf dem ich sitze. Ein bisschen Technik. Wände, Fußboden, Decke.«
    »Wo genau bist du?«
    »Ich sitze auf dem Stuhl.«
    »Und was tust du?«
    »Nichts. – Zuhören. Reden.«
    »Wann?«
    »Wie, wann?«
    »Sag mir, wann das geschieht.«
    »Na, jetzt.«
    »Und das war's auch schon. Dein Bewusstsein ist durchaus in der Lage, die wahre Welt wahrzunehmen und auf das zu reduzieren, was sie ist. Auf das Jetzt. Dem folgt wieder ein Jetzt, wieder ein Jetzt, ein Jetzt, Jetzt, Jetzt, und so weiter. Alles andere, Lynn, sind Projektionen, Fantasien, Spekulationen. – Findest du dein Jetzt bedrohlich?«
    »Wir sind auf dem Mond. Alles könnte schiefgehen, und dann –«
    »Stopp. Du gleitest ab in die Hypothese. Bleib bei dem, was ist.«
    »Na ja«, sagte Lynn widerstrebend. »Nein. Nicht bedrohlich.«
    »Siehst du? Die Realität ist nicht bedrohlich. Wenn du diesen Raum verlässt, wirst du anderen Menschen begegnen, andere Dinge tun, ein neues Jetzt erleben, wieder ein Jetzt, wieder ein Jetzt. Jeden dieser Momente kannst du auf seine Bedrohlichkeit hinterfragen, nur ein Gedanke ist dabei nicht gestattet: Was wäre, wenn. Die Frage lautet: Was ist? Fast immer wirst du feststellen, dass die einzige Bedrohung in deinen Konstruktionen existiert.«
    »Ich bin bedrohlich«, wisperte Lynn.
    »Nein. Du denkst, bedrohlich zu sein, so sehr, dass es dich ängstigt. Aber auch das ist nur ein Gedanke. Er taucht auf und macht Buh, und du fällst darauf rein. 85 Prozent all dessen, was uns durch den Kopf geht, ist Müll. Das meiste registrieren wir gar nicht. Mitunter aber macht ein

Weitere Kostenlose Bücher