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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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schützen.«
    »Das heißt, sobald ich im Besitz dieses Kristalls bin – gut, hol ihn. Wie lange wirst du dafür brauchen?«
    »Maximal eine Stunde.«
    »Haben wir hier zwischenzeitlich irgendwen zu erwarten? Putzfrau, Küchenhilfe, Postbote?«
    »Niemanden.«
    »Dann los, alter Freund. Und vertrödel dich nicht.«
     
    Vogelaar war kein ökologisch motivierter Mensch. Er fuhr einen solarbetriebenen Nissan, nicht weil er, sondern Nyela über die Umwelt nachdachte. Er sah ein, dass viele kleine Autos die Innenstädte entlasteten, doch seine Gene verlangten nach einem Geländewagen. Jetzt allerdings, da er sich durchs Regierungsviertel quälte, verfluchte er lautstark jedes Fahrzeug, das größer war als sein eigenes, und fühlte einen pauschalen Zorn auf die Ignoranz einheimischer Autofahrer.
    Tatsächlich war Deutschland das Land mit den innovativsten Automobiltechnologien, die je in Schubladen vor sich hin geschlummert hatten. Kaum ein Markt hing so sehr an Benzinmotor und Geschwindigkeit wie der deutsche. Während der Anteil der Hybride in Asien und in den USA längst fortschrittlicheren Konzepten wich, war er in Deutschland nicht mal auf Touren gekommen. Nirgendwo sonst führten Wasserstofftechnologie, Brennstoffzelle und Strom ein derart erbärmliches Untotendasein. In keinem anderen Land der Welt fanden es Männer so wichtig, ein großes und repräsentatives Auto zu fahren, und vor allen Dingen, es selbst zu fahren, trotz ausgefeilter, sicherer Autopilotkonzepte. Es schien, als lande das teutonische Selbstbewusstsein auf der Suche nach sich selbst mit quälender Regelmäßigkeit hinterm Steuer. Nur die Zukunft als Ganzes war hierzulande noch unbeliebter als Kleinstwagen.
    Entsprechend langsam kroch der Nissan dahin. Vogelaar fluchte und schlug mit der Hand gegen den Lenker. Als er endlich zornesrot auf den Parkplatz des Crystal Brain einbog, war er in Schweiß gebadet. Er sprang aus der Kabine und hastete in langen Schritten zum Haupteingang.
    Einstein schaute ihn an, relativ kurz.
    Das Gebäude war 2020 in unmittelbarer Nachbarschaft des Regierungsviertels errichtet worden, sah aber aus wie soeben dort gelandet. Ein kubisches, vielfach facettiertes Glas-Ufo mit perfekten Flächen, in denen gedankengleich der Schriftzug Crystal Brain aufleuchtete. Je nachdem, aus welcher Richtung man sich der Fassade näherte, wurden geisterhafte Welten sichtbar, jagten Raptoren durch jurassische Savannen, schleuderten steinzeitliche Jäger Lanzen auf Mammuts, hielten assyrische Könige Hof, erblickte man hellenistische Lanzenträger, römische Cäsaren, napoleonische Reiter und ägyptische Prinzessinnen, Pyramiden und gotische Kathedralen, Kon-Tiki und Titanic, Satelliten, Raumstationen, Mondbasen, das strenge Antlitz Abraham Lincolns, Goethe mit Schlapphut, Bismarck mit Pickelhaube, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Konrad Adenauer, Marilyn Monroe, John Lennon, Mahatma Gandhi, Neil Armstrong, Nelson Mandela, Helmut Kohl, Bill Gates, den Dalai Lama, Thomas Reiter, Julian Orley, geozentrische, heliozentrische und neuzeitliche Darstellungen des Kosmos, Planck'sche Quantenwelten in kunstfertiger Abstraktion, Moleküle, Atome, Quarks und Superstrings wie aus dem Modellbaukasten, die Erfindung des Rades, des Buchdrucks, der Currywurst. All dies und unendlich viel mehr ruhte holografisch eingebettet in den gewaltigen Wänden, manifestierte sich, atmete, pulsierte, drehte die Köpfe, zwinkerte, lächelte, schüttelte Hände, schritt, flog, fuhr, schwamm und verging, so wie der Betrachter die Position wechselte. Alleine diese Außenfassade war ein Meisterwerk, ein Weltwunder der Neuzeit, und doch repräsentierte sie nur einen Bruchteil dessen, was das Innere barg.
    Als Vogelaar das Crystal Brain betrat, erwartete ihn der größte Wissensschatz der Welt auf kleinstem Raum.
    Er durchquerte den schimmernden Dom des Foyers. Beidseitig schwebten Fahrstühle auf und ab, scheinbar ohne Verankerung, ein raffinierter optischer Trick. Sie waren dem Bauwerk fraktal nachempfunden, so wie alles im Crystal Brain dem Prinzip der Selbstähnlichkeit folgte. Die kleinste Komponente, der Gedächtniskristall, glich der größten, dem Bauwerk selbst. Ein Kristall in einem Kristall in einem Kristall.
    Das Gedächtnis der Welt.
    Was Menschen über diese Welt zu erzählen hatten, beanspruchte entweder ein einziges Buch oder so viele, dass ein kompletter Zusatzplanet voll alexandrinischer Bibliotheken nicht ausgereicht hätte, um sie alle dort unterzubringen.

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