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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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den Anhängen harmloser E-Mails knacken könnte.
    »Tu«, sinnierte Xin.
    »So nannte er sich. Ich schicke Ihnen seine Mobilfunknummer rüber. Von wo er angerufen hat, wissen wir nicht.«
    Entgegen der Vornamenvielfalt las sich das chinesische Nachnamenregister geradezu ärmlich. Die überwiegende Anzahl aller Chinesen teilte sich einige Dutzend meist einsilbiger Clanbezeichnungen, die sogenannten einhundert Namen, sodass es keine Seltenheit war, wenn ein ganzes Dorf Zheng, Wang, Han, Ma, Hu oder Tu hieß. Dennoch wurde Xin das Gefühl nicht los, den Namen Tu erst kürzlich im Zusammenhang mit Yoyo gehört zu haben.
    »Haben Sie eigentlich die Seiten aus dem Netz genommen?«, fragte er, da die Erleuchtung ausblieb.
    »Die Kommunikation wurde eingestellt.«
    Xin wusste um den Gehalt dieser Entscheidung, und somit kannte er auch den Grund für die Verdrossenheit seines Gesprächspartners, der das Huckepack-Verfahren einst vorgeschlagen und implementiert hatte. Drei Jahre lang waren sie bestens damit gefahren. Die Köpfe der Hydra hatten in simultanem Austausch miteinander gestanden und funktioniert wie ein einziges großes Gehirn.
    »Wir werden es verschmerzen«, sagte er und versuchte, freundlich zu klingen. »Das Netz hat seinen Zweck mehr als erfüllt, und das ist Ihr Verdienst! Jeder zollt Ihnen dafür Respekt. Ebenso wird es jeder verstehen, dass wir so dicht vor dem Ziel aus Sicherheitsgründen beschlossen haben, den Simultankontakt einzustellen. Die Zeit ist gekommen, da es nichts mehr zu sagen gibt. Nur noch abzuwarten.«
    Xin beendete die Verbindung, starrte auf seine Füße und brachte sie in eine Parallele, bis Knöchel und Ballen in identischem Abstand zueinander lagen, ohne einander zu berühren. Langsam bewegte er seine Knie zur Mitte hin. Die Verfilzungen des Zufalls, wie er sie hasste! Als er spürte, dass seine Wadenhaare in tastenden Austausch gerieten, korrigierte er den Stand seiner Füße, richtete Oberschenkel, Ober- und Unterarme, Hände und Schultern achssymmetrisch aus, bis er dasaß wie mittig gespiegelt. Meist gelang es ihm auf diese Weise, auch sein Denken in Ordnung zu bringen, doch diesmal verfehlte die Übung ihr Ziel. Taumel des Selbstzweifels überkamen ihn, alles verkehrt herum angefangen und die Dinge mit seiner Hetzjagd auf Yoyo nur schlimmer gemacht zu haben.
    Gedanken, Gedankenketten.
    Kontrollverlust.
    Sein Herz schlug wie ein Kolben. Ihm schien, als bedürfe es einer Winzigkeit, und er würde in tausend Stücke zerreißen. Nein, nicht er. Seine Hülle. Dieses Menschenkostüm, das sich Kenny Xin nannte. Wie ein Wirtskörper seiner selbst fühlte er sich, wie ein Kokon, eine Puppe, das Zwischenstadium einer Metamorphose, und er hatte entsetzliche Angst vor dem Ding, das ihn von innen fressen würde. Wann immer es wuchs, sich spreizte und ihm den Atem raubte, er es nicht länger zu zähmen vermochte und der Druck unerträglich wurde, musste er dem Ding etwas geben, um es zu besänftigen, so wie er ihm zugestanden hatte, die Hütte seiner Peiniger niederzubrennen, Niedertracht, Krankheit und Armut den Flammen zu überantworten, und im selben Moment hatte er sich befreit gefühlt, von allem Unglück gereinigt und wolkenlos klar im Kopf. Seitdem bewegte ihn die Frage, ob er an jenem Tag wahnsinnig geworden oder vom Wahnsinn geheilt worden war. An die Zeit davor konnte er sich jedenfalls kaum erinnern. Allenfalls an den Ekel, auf der Welt zu sein. An das Empfinden von Hass seinen Eltern gegenüber, ihn geboren zu haben, auch wenn er als kleiner Mensch wenig über die Umstände seines In-die-Welt-Geworfen-Seins wusste, lediglich die Gewissheit verspürte, dass seine Familie für seine Existenz verantwortlich war, was schon ausreichte, sie zu hassen, und dass sie ihm das Leben zur Hölle machten.
    Dass sein Hiersein keinerlei Sinn ergab.
    Erst nach dem Brand hatte sich ihm der Sinn erschlossen. Konnte man wahnsinnig sein, wenn plötzlich alles einen Sinn ergab? Wie viele der sogenannten geistig Gesunden gingen rund um die Uhr sinnlosen Tätigkeiten nach? Wie vieles von dem, was als richtig und moralisch erachtet wurde, fußte auf Riten und Dogmen, die jeglicher Sinnhaftigkeit entbehrten? Das Feuer hatte seinen Horizont erweitert, sodass er auf einmal den Plan erkannte, die labyrinthischen Wege der Schöpfung, ihre abstrakte Schönheit. Von dort gab es keinen Weg zurück. Er hatte sich auf ein höheres Level begeben, man mochte es Wahnsinn nennen, doch es hieß lediglich, dem Druck einer

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