Limit
verteilte sie unter seinen Nasenlöchern. »Sie ist hier, um Erfahrung zu sammeln.«
Dr. Voss nickte verständig.
»Na, in der Theorie nicht aufgepasst, Frau Kommissarin«, frotzelte Tu auf Chinesisch, als der die Tube an Yoyo weitergab. Sie bedachte ihn mit einem Augenrollen und verrieb einen Strang der Paste auf ihrer Oberlippe, definitiv zu viel, wie sie im nächsten Moment feststellte. Eine Mentholbombe explodierte in ihren Atemwegen, fegte wie ein Blizzard durch ihr Hirn und drängte den Leichengeruch in den Hintergrund. Svenja Maas beobachtete sie mit verschwörerischem Interesse, wie es schöne Menschen einander entgegenbringen, wenn sie in Gesellschaft weniger exorbitant gestalteter Individuen zusammentreffen.
»Irgendwann gewöhnt man sich dran«, verkündete sie aus dem Himmelreich der Erfahrung.
Yoyo lächelte schwach.
Sie folgten der Ärztin in den Sektionssaal, einen rotweiß gekachelten Raum mit Blindglasfenstern und kastenförmigen Deckenleuchten. Fünf Obduktionstische reihten sich aneinander. Die beiden vorderen waren leer, über den mittleren beugten sich zwei Obduzenten. Der Körper, aus dessen klaffendem Brustkorb einer von beiden soeben das dunkle Paket der Lunge barg, war weiblich und schwarz. Der andere Obduzent sprach etwas in ein Diktafon, und die Lunge wanderte auf eine Waage. Dr. Voss führte die Gruppe am vierten Tisch vorbei, auf dem sich unter weißem Leinen eine massige Gestalt abzeichnete, verharrte am Letzten, auch dort ein abgedeckter Körper, schlug das Tuch zurück, und sie erblickten Jan Kees Vogelaar alias Andre Donner.
Yoyo betrachtete ihn.
Sie hatte den Mann nicht sonderlich gemocht, doch wie er nun dalag, mit frisch vernähtem Y-Schnitt, fühlte sie Mitleid. Nicht anders hatte sie um Jack Nicholson getrauert in Einer flog über das Kuckucksnest, um Robert de Niro in Heat, um Kevin Costner in A Perfect World, um Chris Pine in Neighborhood, um Emma Watson in Pale Days. Um alle, die es beinahe geschafft hatten, und in letzter Sekunde doch noch gescheitert waren, sooft man den Film auch ansah.
»Falls Sie mich nicht brauchen«, sagte Dr. Voss, »lasse ich Sie jetzt in der Obhut von Frau Maas. Sie hat bei Donners Obduktion assistiert und sollte Ihre Fragen hinreichend beantworten können.«
»Tja«, wechselte Tu ins Chinesische. »Dann wollen wir mal, Frau Kollegin.«
Sie beugten sich über das wächserne, ins Bläuliche spielende Gesicht. Yoyo versuchte sich zu erinnern, auf welcher Seite Vogelaar sein Glasauge trug. Jericho hatte darauf bestanden, es sei die rechte. Sie selbst war sich nicht sicher. Tatsächlich hätte sie auf die linke geschworen. Perfekt gearbeitet, fiel es unter Vogelaars geschlossenen Lidern nicht auf.
»Unsicher?« Tu runzelte die Stirn.
»Ja, und daran ist Owen schuld.« Yoyo warf einen Seitenblick auf Svenja Maas, die sich im Hintergrund hielt. »Lass dir doch mal von unserer Freundin da den Burschen auf dem Nebentisch zeigen.«
»Ist gut, ich halte sie hin.«
»Wird schon.« Yoyo lächelte säuerlich. »Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten.«
Nicht, dass sie sich an den Anblick Toter zu gewöhnen begann oder daran, dass Leute, die man eben erst kennengelernt hatte, gleich wieder verstarben. Doch während sie noch zwischen Abscheu und Faszination oszillierte, breitete sich unerwartet eine große Ruhe in ihr aus, dunkel und klar wie ein Bergsee. Tu drehte sich zu Svenja Maas um und zeigte auf den noch verhüllten Körper auf Tisch vier.
»Könnten Sie bitte diesen Mann für uns freilegen?«
Zu dumm. Die Doktorandin trat auf die falsche Seite des Tisches. Von ihrer Position aus hatte sie Yoyo unverändert im Blick. Tu verlagerte seine Erscheinung, sodass er Svenja Maas die Sicht nahm.
»Du lieber Himmel«, rief er. »Was ist mit seinem Auge passiert?«
»Ein Angriff mit einem Bleistift«, sagte die Doktorandin nicht ohne Begeisterung. »Durch den Knochen ins Gehirn getrieben.«
»Und wie genau ist das vonstatten gegangen?«
Yoyo legte zwei Finger auf Vogelaars rechtes Augenlid und schob es hoch. Es schien völlig ohne Temperatur, weder kalt noch warm. Während Frau Maas über Eintrittswinkel und Druckpunkte referierte, presste sie Daumen und Mittelfinger in die Augenwinkel. Der Augapfel schien ihr allzu fest in der Orbita verankert, eher von der Beschaffenheit einer Glasmurmel als glitschig und weich, sodass sie einen Moment lang unsicher wurde, ob Jericho vielleicht doch recht hatte, und ihre Finger tiefer in die Knochenhöhle
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