Limit
allerkleinste Gedankenpartikel, die keiner Zeit, keiner Wahrnehmungsebene, keiner Geschichte mehr zuzuordnen waren. Immer kürzere Phasen des Denkens, lichtschnell schwirrender Denkstaub, in sich zusammenstürzender Geist, ohne den Gegendruck des Willens unaufhaltsam kollabierend, Unterschreitung des Ereignishorizonts, kein Senden, nur noch Empfangen, fortschreitende Komprimierung, das Ende aller Vorgänge, aller Kontur, aller Gestalt, reiner Zustand, und auch dieser kümmerliche Rest dessen, was einmal Lynn Orley gewesen war, würde sich unter dem Druck seiner selbst zersetzen und verdampfen, ohne etwas zu hinterlassen als unbevölkerten, imaginären Raum.
Jemand war gestorben. So viele waren gestorben.
Sie erinnerte sich nicht.
LONDON, GROSSBRITANNIEN
Yoyo, die Verschollengeglaubte, hatte sich mit Glockenschlag 22:00 Uhr wieder eingefunden, als Diane soeben die datentechnische Exhumierung eines mutmaßlich Verstorbenen vornahm. Mutmaßlich, da nie jemand einen Blick auf die Leiche hatte werfen können, weil sie nach Art aller Objekte, die sich auf nicht bekannten oder berechenbaren Bahnen bewegten, flüchtig war.
»Victor Thorn, genannt Vic«, sagte Jericho, ohne Yoyo der Frage zu würdigen, warum aus den angekündigten fünf Minuten drei Stunden geworden waren und was Tu so trieb in seiner Wut.
»Entschuldige.« Yoyo druckste herum. Irgendeine Kröte saß ihr im Hals und wollte raus. »Ich weiß, ich wollte schon viel früher wieder –«
»Kommandant der ersten Mondbasis-Besatzung. Ein NASA-Mann. 2021 hat er den Laden sechs Monate lang geschmissen.«
»Tian ist eigentlich nicht so, du kennst ihn ja.«
»Offenbar hat Thorn seine Aufgabe gut gemacht. So gut, dass sie ihn 2024 erneut mit einer Halbjahresmission betraut haben.«
»Ehrlich gesagt, wir haben gar nicht viel miteinander gesprochen«, sagte Yoyo etwas schrill. Die Kröte kroch auf ihre Zunge. »Er war nur einfach entsetzlich sauer. Am Ende haben wir uns einen Film angesehen, Normalität gespielt, weißt du, Pfeifen im Walde. Wahrscheinlich der denkbar unpassende Moment, aber du darfst nicht glauben –«
»Yoyo.« Jericho seufzte und zuckte die Achseln. »Das ist eure Sache. Das geht mich nichts an.«
»Doch, es geht dich was an!«
Krötenwanderung.
»Nein, tut es nicht.« Zu seiner Verblüffung meinte er es ernst. Die alte, unbewältigte Kränkung, die ihm so lange wie schlechter Geruch in den Kleidern gehangen hatte, wich der Einsicht, dass weder Tu noch Yoyo Schuld an seiner zerknautschten Laune traf. Wie befreundet sie auch sein mochten, es ging ihn tatsächlich nichts an. »Das ist ganz allein eure Geschichte, euer Leben. Ihr müsst mir nichts erzählen.«
Yoyo schaute unglücklich auf den Monitor. Die Situation ließ an Intimität manches zu wünschen übrig. Der Platz im Lageinformationszentrum war notdürftig abgeschirmt, ringsum arbeiteten Menschen, wie Mikroorganismen in der Bauchhöhle des Big O verdauten und prozessierten sie Information und schieden sie aus.
»Und wenn ich dir was erzählen will?«
»Dann wird jeder Zeitpunkt besser sein als dieser.«
»Na schön.« Sie seufzte. »Was ist denn nun mit diesem Thorn?«
»Folgendes: Angenommen, die Explosion der Mini-Nuke wäre auf alle Fälle für 2024 vorgesehen gewesen – dann muss zu der Zeit jemand oben gewesen sein, um die Bombe zu bergen, zu platzieren und zu zünden. Oder aber jemand war ausersehen, ihr hinterherzureisen und diese Dinge zu tun.«
»Klingt logisch.«
»Es wurde aber keine Explosion registriert, und die Leute vom MI6 meinen, eine Mini-Nuke zu lange im Vakuum zu lagern, könne das Risiko des vorzeitigen Zerfalls bergen. Warum also wurde sie nicht gezündet?«
Yoyo sah ihn an, eine kleine, steile Falte der Nachdenklichkeit zwischen den Augen.
»Weil die betreffende Person die Zündung nicht wie geplant vornehmen konnte. Weil etwas dazwischenkam.«
»Richtig. Also habe ich Diane auf die Suche geschickt. Im Netz findest du Informationen über sämtliche Weltraummissionen des vergangenen Jahres, und dabei stieß ich auf Thorn. Unfall mit Todesfolge, bei einem Außeneinsatz auf der OSS, am 2. August 2024. Völlig unerwartet, bevor er seinen Dienst in der Peary-Basis antreten konnte, vor allem aber ziemlich genau ein Vierteljahr, nachdem Mayés Satellit gestartet war.«
Yoyo nagte an ihrer Unterlippe.
»Und die Chinesen? Hast du die mal überprüft?«
»Du kannst die Chinesen nicht überprüfen«, sagte Jericho. »Du musst dich mit ihren
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