Limit
an.«
Tu ließ die Fuhre Nüsse aus seiner Handfläche zurück in die Schale rieseln und rührte mit einem Finger dann herum. Eine ganze Weile sagte niemand etwas.
»Weißt du, was ein Ankang ist?«, fragte er schließlich.
Jericho wandte den Kopf. »Ja.«
»Möchtest du eine Geschichte über einen Ankang hören?« Tu lächelte. »Natürlich nicht. Niemand möchte eine Geschichte über einen Ankang hören, aber du hast es nicht anders gewollt. Sie beginnt am 12. Januar 1968 in der Provinz Zhejiang mit der Geburt des einzigen Kindes. Übrigens nicht in Befolgung der Ein-Kind-Politik, die wurde erst Jahre später verfügt, wie du ja sicher weißt als Beinahe-Chinese.«
12. Januar –
»Definitiv nicht dein Geburtstag«, sagte Jericho.
»Nein, außerdem wurde ich in Shanghai geboren, das Kind hingegen in einer Kleinstadt. Der Vater war Lehrer und als solcher dringend verdächtig, sein Hirn in den Dienst solch verwerflicher Ziele wie Allgemeinbildung oder Herausarbeitung einer intellektuellen Geisteshaltung zu stellen, mit anderen Worten, überhaupt zu denken. Damals reichte es, die Eckdaten der älteren Landesgeschichte aufsagen zu können, um mit Stöcken durch die Straßen geprügelt zu werden, aber der Lehrer hatte sich, als Pekings Horden die Zerstörung unserer Kultur in Angriff nahmen, die sie zu revolutionieren vorgaben, mit den Umständen arrangiert. Vorerst. Das Spinnennest der Roten Garden war ja die Hauptstadt, während die lokalen Parteiführer in den ländlichen Regionen die Gardisten bekämpften. Die dortigen Bauern und Arbeiter profitierten eher von der Politik Deng Xiaopings und Liu Shaoqis. Um nicht als gebildet zu gelten, arbeitete unser Lehrer fortan in einer Landmaschinenfabrik und versuchte auf seine bescheidene Weise, den Sturz Dengs und Lius durch die Maoisten zu verhindern. Eine Absplitterung der Garden hatte in der Stadt Fuß gefasst, das Koordinierte Arbeitskomitee, die offen mit Deng sympathisierten, und der Lehrer dachte, es sei eine gute Idee, sich ihnen anzuschließen. War es auch. Bis '68, als sich das Komitee unter dem Druck der Hardliner auflöste. Denen reichte es schon zu wissen, dass er mal Lehrer gewesen war, und er begann um das Leben seiner Familie zu fürchten am Tag, als sein Sohn geboren wurde.«
Jericho nippte an seinem Tee, während ihm ein Verdacht kam.
»Wie hieß dieser Lehrer, Tian?«
»Chen De.« Tu tippte eine Erdnuss mit dem Zeigefinger an und ließ sie über die Tischplatte kullern. »Auf den Namen seines Sohnes solltest du jetzt von selber kommen.«
»Ein Name, der Linientreue ausdrücken sollte. Roter Soldat.«
»Hongbing. Taktisch klug gedacht, es nützte nur nicht viel. Ende '68 kamen sie Hongbings Mutter verhaften, wegen reaktionärer Äußerungen, wie es hieß, tatsächlich, weil viele Gardisten die Kultur unter Zuhilfenahme des Knüppels zwischen ihren Beinen revolutionierten und ihr nicht einleuchten wollte, was es den armen Bauern nützte, wenn sie mit so einem ins Bett ging. Man brachte sie in ein Umerziehungslager, wo sie – na ja, umerzogen wurde. Krank und misshandelt kehrte sie zurück, nicht mehr dieselbe. Sporadisch und unter großen Risiken nahm Chen De seine Lehrertätigkeit wieder auf, meist arbeitete er in der Fabrik und versuchte seinem Jungen im Geheimen so viel Bildung wie möglich zu vermitteln, etwa die Vorzüge eines ethischen Lebenswandels, brandgefährlich, kann ich dir sagen! Mitte der Siebziger – Mao widmete sich jetzt vorzugsweise den jüngeren Töchtern der Revolution, explizit ihrer Entjungferung – trug ihm seine Verbundenheit zum Komitee mit siebenjähriger Verspätung den Vorwurf der Konterrevolution ein, kurzer Prozess, Knast. Zurück blieb Hongbing, ein Kind, das alleine für die angeschlagene Mutter sorgen musste, also übernahm es die Arbeit in der Landmaschinenfabrik.«
Tu machte eine Pause und goss sich Tee nach.
»Nun, Verschiedenes änderte sich, manches zum Besseren, anderes zum Schlechteren. Nacheinander sterben Mutter und Mao, der in Ungnade gefallene Deng wird rehabilitiert, Hongbings Vater darf wieder unterrichten, parteikonform, versteht sich. Der Junge wächst heran zwischen Ideologie und Zweifel. In Ermangelung menschlicher Vorbilder fokussiert er seine Begeisterung auf Autos, damals Objekte von großer Seltenheit. Damit lässt sich auf dem Land jedoch kein Glück machen, also zieht er mit siebzehn nach Shanghai, der lustvollen Variante des knöchernen Pekings, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs
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