Limit
hatte wieder begonnen, Süßigkeiten zu essen, stopfte immer neue Händevoll in sich rein, kaum dass er geschluckt hatte. »Das wäre doch widersinnig gewesen. Ich meine, wie kann ein Wahnsinniger Einspruch gegen den Tatbestand seines Wahns erheben, jeder weiß doch, dass sich die Verrückten für die einzig Normalen halten. Gegen das polizeiliche Urteil, irre zu sein, besteht keine Einspruchsmöglichkeit, die Dauer der Einweisung fällt einzig ins Ermessen der Polizeipsychiater und Funktionäre. Das macht es so unerträglich für die Opfer. Im Gefängnis oder Arbeitslager weißt du, wie viel sie dir aufgebrummt haben, dein Aufenthalt im Ankang unterliegt hingegen der Willkür deiner Peiniger. Aber weißt du, was das eigentlich Perfide ist?«
Jericho schüttelte den Kopf.
»Dass viele Insassen tatsächlich geisteskrank sind. Raffiniert, was? Stell dir die Qual eines gesunden Menschen vor, von psychisch schwer gestörten Straftätern umgeben zu sein, die ihn unentwegt bedrohen. Kein halbes Jahr nach seiner Einlieferung wird Hongbing Zeuge, wie zwei Insassen ermordet werden, und das Personal schaut tatenlos zu. Nächtelang zwingt er sich, wach zu bleiben, aus Angst, der Nächste zu sein. Andere Mithäftlinge, pardon, Patienten, sind wieder völlig normal, so wie er selbst. Spielt keine Rolle. Alle gehen durch dieselbe Hölle. Regelmäßig werden sie Therapien unterzogen, chemischen Zwangsjacken, Insulin- und Elektroschocks. Du glaubst ja gar nicht, was alles der geistigen Gesundung dienlich ist! Das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut, bevorzugt auf den Genitalien, Folter mit glühenden Haken, extreme Hitze, Schlafentzug, Untergetaucht-Werden in Eiswasser, und immer wieder Prügel. Aufwiegler werden ans Bett gefesselt und bis zur Besinnungslosigkeit traktiert, etwa, indem man ihnen eine Nadel in die Oberlippe sticht, Stromstöße hindurchjagt und dabei die elektrische Spannung abwechselnd auf hoch und niedrig stellt, damit bloß keiner gegen den Schmerz abstumpft. Manchmal, wenn den Ärzten und Schwestern danach ist, müssen alle Insassen einer Abteilung zur Bestrafung antreten, egal, ob sie was verbrochen haben oder nicht. Unter der wohlmeinenden Fürsorge des Personals sterben mehrere Patienten an Herzinfarkten. Einer, mit dem Hongbing sich angefreundet hat, entschließt sich in seiner Verzweiflung zum Hungerstreik. Auch ihn fesselt man ans Bett, dann müssen geistesgestörte Mitgefangene ihn unter Aufsicht der Pfleger zwangsernähren. Bloß, wie macht man das? Weil es ihnen keiner beibringt, kippen sie dem armen Kerl so lange Flüssignahrung zwischen die aufgezwungenen Kiefer, bis er erstickt, aber wenigstens hat er gegessen. Herzversagen, laut Aktenvermerk. Niemand wird belangt. Hongbing hat Glück im Unglück, die schlimmsten Folterungen bleiben ihm erspart. Es gibt autovernarrte Kader in Shanghai, die sich für ihn einsetzen, dezent genug, um nicht selbst Opfer von Repressalien zu werden, doch es reicht für eine vergleichsweise privilegierte Behandlung. Er bekommt eine Einzelzelle zugewiesen, darf lesen und fernsehen. Dreimal täglich werden ihm Neuroleptika mit starken Nebenwirkungen verabreicht, während ihm manche Ärzte unter der Hand zu verstehen geben, dass sie ihn für völlig gesund halten. Hongbing verbirgt die Pillen unter der Oberlippe und lässt sie im Klo verschwinden, schon gibt's eine Insulinschocktherapie zur Strafe, und er liegt tagelang im Koma. Ein anderes Mal wird er festgeschnallt, ein Arzt streift Handschuhe mit Metallplatten über, legt sie auf seine Stirn, und dann knallt es, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Elektroschocktherapie, diesmal als Strafe dafür, Hongbing zu sein. Fortwährend knallt es im Ankang, vor lauter Wehgeschrei kriegt man kein Auge zu. Die Patienten verstecken sich unter den Betten, in der Toilette, unterm Waschbecken, zwecklos. Wer ausersehen ist, der wird gefunden. – Oh, nichts mehr zu knabbern.«
Jericho brauchte einen Moment, um zu reagieren. In Bann geschlagen stand er auf, ging an die Bar und kehrte mit ein paar Tüten Chips zurück.
»Cheese and Onion«, las er vor. »Oder lieber Bacon?«
»Schnuppe. Im zweiten Jahr versucht Hongbing zu fliehen. Fast ist er draußen, da schleppen sie ihn wieder rein. Davon träumt er heute noch, öfter als von allem anderen. Zur Belohnung für so viel Eigeninitiative verpassen sie ihm Scopolamin, das dich apathisch macht, sodass du über dumme Dinge wie Abhauen nicht mehr nachdenkst. Überflüssig zu erwähnen, dass
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