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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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stimmt nicht. Bis hierhin war es nur grausam.«
    Tu machte eine Pause, während die Sonne höher stieg und das Bett der Themse mit Licht ausgoss.
    »Einige Kilometer außerhalb Hangzhous, idyllisch situiert zwischen Reisfeldern und Teebergen, lag viele Jahre lang ein hübscher, buddhistischer Tempel. Bis man ihn abriss, um an seiner statt etwas zu errichten, wovon man meinte, dass es der chinesischen Gesellschaft dienlich sein könnte.«
    »Einen Ankang.«
    Jericho fühlte seine Müdigkeit verfliegen. Er hatte von Ankangs gehört, wenngleich nie einen von innen gesehen. Wörtlich bedeutete Ankang Sicherheit, Frieden und Gesundheit, tatsächlich handelte es sich um Polizeipsychiatrien.
    »Der Ankang von Hangzhou war Chinas erste Psychiatrie ihrer Art«, sagte Tu. »Errichtet auf dem Fundament des Glaubens an die perfekte Ideologie, die infrage zu stellen nur Resultat einer mehr oder minder schweren Geistesverwirrung sein konnte, so wie man geisteskrank sein muss, um zu glauben, die Erde sei viereckig oder der Ehepartner ein verkleideter Hund. Nach dem Vorbild der Sowjetunion wurden auch in China Dissidenten immer wieder für verrückt erklärt, den schmucken Namen Ankang verlieh die Partei den Psychiatrien allerdings erst Ende der Achtziger. Bis dahin waren sie im Geheimen betrieben worden.«
    »Sag mal, dieser verhaftete Dissident, dessen Freilassung Hongbing erwirken wollte, Wang Wanxing – wurde der nicht auch in einem Ankang festgehalten?«
    »Dreizehn Jahre, und schließlich abgeschoben, 2005. Bis dahin waren über Ankangs nur Gerüchte im Umlauf gewesen, dass sie weniger der Pflege echter Geisteskranker als vielmehr der Demütigung Gesunder dienten. Nun begann, zunächst zögerlich, eine Debatte, was die Partei jedoch nicht daran hinderte, weitere dieser sogenannten Psychiatrien in Betrieb zu nehmen. Es soll ja beständig Leute geben, die der Paranoia der Menschenrechte erliegen oder sich in die schizophrene Vorstellung freier Wahlen verrennen. Die Welt ist voller Verrückter, Owen, man muss fein achtgeben: Gewerkschafter, Demokraten, Religiöse, Menschen mit Petitionen und Beschwerden, die sich beispielsweise gegen die Abrisspolitik Shanghais zur Wehr setzen und solch exotische Dinge fordern wie Mitspracherecht. Nicht zu vergessen die ganz Verwirrten, die meinen, in unserer perfekten Gesellschaft Fälle von Korruption auszumachen.«
    Jericho schwieg. Tu schlürfte Tee, wie um den Geschmack des Wortes Ankang aus seiner Mundhöhle zu spülen.
    »Nun ja, seit Wanxings Abschiebung haben die Opfer begonnen, sich zu wehren. Anfang 2005 erließ der Volkskongress gar ein Gesetz, das Folter durch die Polizei verbietet, eine Farce natürlich. Immer noch ist es üblich, Verdächtige so lange Repressalien auszusetzen, bis sie irgendein Geständnis unterschreiben, den Beweis ihrer Geisteskrankheit, und von da an darf man Folter mit Fug und Recht Behandlung nennen. Rund einhundert Ankangs gibt es noch in China, Gegenstand öffentlicher Debatten und internationaler Mahnungen, doch als Hongbing in Hangzhou eingeliefert wird, schreiben wir das Jahr 1993, und kein Gesetz sieht die Möglichkeit des Einspruchs vor. In den Platanen auf dem Anstaltsgelände, hübsch anzusehen, hängt eine rote Banderole mit der Aufschrift Körperliche und seelische Gesundheit: Glück im ganzen Leben, das ganze zynische Vokabular des Gulags. Hongbing erhält seine Diagnose: Er leide an paranoider Psychose und politischer Monomanie. Vom einen wie vom anderen hat außerhalb Chinas nie ein Arzt gehört, beides findet sich auf keiner internationalen Liste, was wieder mal zeigt, wie dumm die Ausländer sind. Hongbing mache einen guten Eindruck, heißt es in milder Anstaltsdiktion, sein Gemütszustand sei stabil, er gehorche, höre Radio, lese gern und sei hilfsbereit, nur dass er, so wörtlich, eine massive Behinderung des logischen Denkens an den Tag lege, sobald die Rede auf Politik komme. Seine Behinderung sei für jedermann ersichtlich, seine mentale Aktivität geprägt von Größenwahn, Streitsucht und einem pathologisch übersteigerten Willen. Die Ärzte halten deshalb eine medikamentöse Behandlung und strenge Überwachung für angezeigt, um den armen Hongbing auf den leuchtenden Pfad geistiger Klarheit zurückzuführen, und somit ist er aller Rechte beraubt.«
    »Konnte er nicht wenigstens mit einem Anwalt sprechen?«, sagte Jericho fassungslos. »Irgendeine Möglichkeit muss es doch gegeben haben, einen Prozess zu erwirken.«
    »Aber, Owen.« Tu

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