Limit
geheiratet habe, hatte sie sich schon das halbe Hirn weggekokst. Und was Lynn betrifft –«
»Was Lynn betrifft, hörst du jetzt mal zu«, herrschte Amber Julian an. »Denn tatsächlich, und da gebe ich Tim vollkommen recht, bist du unfähig, in jemand anderes Kopf zu gucken. Du denkst, das Leben ist ein Film, du führst Regie, und alle handeln und denken nach Skript. Ich weiß nicht, ob du Lynn wirklich liebst oder nur die Figur, die sie für dich spielen soll –«
»Natürlich liebe ich sie!«
»Geschenkt. Du hast alles für sie getan, du hast ihr eine beispiellose Karriere ermöglichst, aber hast du dich je für sie interessiert? Bist du sicher, dass du dich überhaupt für Menschen interessierst?«
»Herrgott, wozu veranstalte ich das alles denn?«
»Nein, nein.« Sie hob einen Finger. »Zuhören, kleiner Julian, was die Tante sagt! Du drehst Filme und besetzt Rollen. Mit zehn Milliarden Statisten und Lynn in der Hauptrolle.«
»Das stimmt nicht!«
»Doch, es stimmt. Du bist unfähig zu erkennen, dass deine Tochter manisch depressiv ist und das Schicksal ihrer Mutter zu erleiden droht.«
»Genau«, rief Tim. »Weil du nämlich –«
»Klappe, Tim! – Schau, Julian, es ist ja keineswegs so, dass du es nicht sehen willst, du siehst es einfach nicht! Komm in der Wirklichkeit an. Lynn ist außergewöhnlich begabt, sie hat genialische Züge, ganz genauso wie du, aber im Gegensatz zu dir fließt kein Powerdrink durch ihre Adern, sie hat nicht das Naturell eines Stehaufmännchens und nicht die Empfindsamkeit eines Weideochsen. Hör also endlich auf, sie als perfekt zu verkaufen und ihr immer mehr aufzuhalsen, weil sie es nämlich nicht wagen wird, dir zu widersprechen. Nimm den Druck von ihr. Sprich mir nach: Lynn – ist – nicht – wie – ich!«
»Äh – Julian?«
Amber sah auf. Nina Hedegaard, sichtlich unangenehm berührt, hing in der Schleuse zur Wohneinheit. Julian wandte den Kopf und zwang Gelassenheit in seine Züge.
»Komm ruhig rein. Wir tauschen lustige Familiengeschichten aus und besprechen das nächste Weihnachtsfest.«
»Ich will nicht stören.« Sie lächelte scheu. »Hallo Amber. Hi, Tim.«
Seit die Charon ihre einsame Rückreise zur OSS angetreten hatte, gab Julian sich keinerlei Mühe mehr, die Liaison mit der Pilotin zu verbergen. Amber mochte und bedauerte Nina, die Julians Bekennerlaune insofern aufsaß, als sie eine gemeinsame Zukunft daraus ableitete.
»Was gibt's denn?«, fragte Julian.
»Ich hab Jennifer Shaw in der Leitung.«
»Bin sofort da.« Er schlängelte sich in Richtung Schleuse, allzu bereitwillig, wie es Amber vorkam.
»Gleich danach kommst du zurück«, verfügte sie. »Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
»Ja«, seufzte Julian. »Das hatte ich schon befürchtet.«
Tim öffnete den Mund zu einer unfeinen Bemerkung. Amber verengte die Augen und entsandte einen Bannstrahl, sodass er ihn in vorauseilendem Gehorsam wieder zuklappte.
Lynn schärfte die Klinge ihres Argwohns.
Die abschließenden Ereignisse auf dem Mond erschienen ihr als eine einzige, quälende Traumsequenz, und tatsächlich hatte sie Mühe, sich der letzten Stunden im Gaia zu entsinnen. Doch als Dana Lawrence an ihrem Schlafsack vorbeischwebte, zufällig im selben Moment, als sie die Augen öffnete, ihr einen Blick zuwarf und sie fragte, wie es ihr gehe, erstrahlte auf ihrer Großhirnrinde ein synaptisches Feuerwerk, und sie konnte nicht anders. Sie sagte:
»Scheren Sie sich zum Teufel, Sie falsche Schlange.«
Lawrence verharrte, den Kopf zurückgelegt, die Lider schwer von Arroganz. Aus dem Nebenbereich waren die Stimmen der anderen zu hören. Dann kam sie näher.
»Was haben Sie eigentlich gegen mich, Lynn? Ich habe Ihnen doch nicht das Geringste getan.«
»Sie haben meine Autorität infrage gestellt.«
»Nein, ich war loyal. Glauben Sie, es hätte Spaß gemacht, Kokoschka beim Verbrennen zuzusehen, auch wenn er mit Hanna unter einer Decke steckte? Ich musste die Evakuierung anordnen.«
Das Dumme war, sie hatte recht. Inzwischen wusste Lynn, dass sie sich hochgradig paranoid aufgeführt hatte, wenngleich sie sich fragte, in welchem Zusammenhang eigentlich. Beispielsweise war ihr entglitten, warum sie Julian bestimmte Filme nicht hatte zeigen wollen. Auch an ihre wilde Flucht über die gläsernen Brücken, Sekunden bevor das Feuer ausgebrochen war, konnte sie sich nicht erinnern, dafür an Hannas Verrat, an die Bombe und die Rettungsaktion der Eingeschlossenen in Gaias Kopf.
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