Limit
ihre Röcke rafft und ein prachtvoller Sonnenaufgang daran scheitert, Blicke auf sich zu ziehen. Aus der Ferne hat die Plattform imposant und geheimnisvoll ausgesehen und auch ein bisschen Furcht einflößend, nun übt sie eine Faszination ganz anderer Art aus, weit verbindlicher. Erstmals stellt sich das Gefühl ein, dass dies kein Disneyland ist und dass es kein Zurück mehr gibt, dass sie diese Welt bald gegen eine andere, fremdartige eintauschen werden. Es überrascht Chambers nicht, einige aus der Gruppe immer wieder zur Isla de las Estrellas hinüberschauen zu sehen. Olympiada Rogaschowa etwa, Paulette Tautou – selbst Momoka Omura wirft verstohlene Blicke auf den zerklüfteten Felsen, wo die Lichter des Stellar Island Hotels etwas unerwartet Heimeliges ausstrahlen, als mahnten sie, den Unsinn bleiben zu lassen und nach Hause zu kommen, zu frisch gepressten Säften, Sonnenmilch und Seevogelgeschrei.
Warum wir, fragt sie sich verärgert. Warum sind es ausgerechnet die Frauen, denen beim Gedanken, den Aufzug zu besteigen, mulmig wird? Sind wir wirklich solche Angsthasen? Von der Evolution in die Rolle notorischer Bedenkenträger genötigt, weil nichts die Brut gefährden darf, während Männchen – verzichtbar, da ihrer Spermien beraubt – ruhig ins Unbekannte vorstoßen und dort krepieren dürfen? Im selben Moment fällt ihr auf, dass Chuck Donoghue unverhältnismäßig stark schwitzt, Walo Ögi deutliche Anzeichen von Nervosität erkennen lässt, sieht sie die gespannte Erwartung auf Heidrun Ögis Zügen, Miranda Winters kindliche Begeisterung, das von Intelligenz gesteuerte Interesse in Eva Borelius' Augen, und ist versöhnt mit den Umständen. Gemeinsam gehen sie auf den gewaltigen, mehrstöckigen Zylinder des Bahnhofs zu, und schlagartig wird ihr klar, warum sie sich gerade so aufgeregt hat.
Peinlich – aber sie hat selber die Hosen voll.
»Offen gestanden«, sagt Marc Edwards, der neben ihr hergeht, »ganz wohl ist mir bei der Sache nicht.«
»Ach nein?« Chambers lächelt. »Ich dachte, Sie sind Abenteurer.«
»Na ja.«
»Haben Sie jedenfalls in meiner Show erzählt. Wracktauchen, Höhlentauchen –«
»Ich glaube, das hier ist was anderes als tauchen.« Edwards betrachtet versonnen seinen rechten Zeigefinger, dessen erstes Glied fehlt. »Ganz was anderes.«
»Sie haben mir übrigens nie verraten, wie das passiert ist.«
»Nein? Ein Kugelfisch. Ich hab ihn geärgert, in einem Riff vor Yucatán. Wenn man sie gegen die Nase stupst, werden sie zornig, weichen zurück und blähen sich auf. Immer wieder hab ich ihn angestupst –«, Edwards piesackt einen imaginären Kugelfisch, »– bloß, da waren überall Korallen, er konnte nicht weiter zurück, also hat er beim nächsten Mal einfach das Maul aufgesperrt. Kurz war mein Finger darin verschwunden. Tja. Man sollte eben niemals versuchen, seinen Finger aus einem geschlossenen Maul zu ziehen, schon gar nicht mit Gewalt. Als ich ihn draußen hatte, stach nur noch der Knochen heraus.«
»Vor so was müssen Sie da oben schon mal keine Angst haben.«
»Nein.« Edwards lacht. »Wahrscheinlich wird es der sicherste Urlaub unseres Lebens.«
Sie betreten den Bahnhof. Er ist kreisrund und wirkt von innen noch größer, als es von außen den Anschein hat. Starke Strahler beleuchten zwei einander gegenüberliegende Aufbauten, in allen Details identisch, nur spiegelverkehrt. Im jeweiligen Zentrum spannt sich das Band aus seiner Bodenverankerung senkrecht nach oben, umstanden von drei tonnenförmigen Gebilden, dem Aussehen nach oszillierend zwischen Kanonen und Suchscheinwerfern, die Mündungen himmelwärts gerichtet. Ein doppelt mannshohes Gitter zieht sich um jede der Anordnungen. Es ist weitmaschig genug, um hindurchschlüpfen zu können, signalisiert jedoch unmissverständlich, dass man es besser bleiben lässt.
»Und wisst ihr auch, warum?«, ruft Julian blendender Laune. »Weil der unmittelbare Kontakt mit dem Band ruckzuck ein Körperteil kosten kann. Ihr müsst euch vor Augen halten, dass es bei einer Breite von über einem Meter dünner als eine Rasierklinge ist, dabei aber von unglaublicher Härte. Würde ich einen Schraubenzieher über die Außenkante ziehen, könnte ich ihn zu Spänen hobeln. Hat jemand Lust, es mit seinem Finger zu versuchen? Will jemand seinen Ehepartner loswerden?«
Chambers muss an den Ausspruch eines Journalisten denken, der einmal gesagt hat: »Julian Orley geht auf keine Bühne, die Bühne folgt ihm, wo immer er ist.«
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