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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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hinzu.
    »Lynn, ich habe versprochen, auf dich aufzupassen, und das tue ich.« Er stand auf, beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen weiteren Kuss. »Also bis gleich. Ach ja, und zieh die Hose mit der Bluse an. Dazu sehen die offenen Haare nämlich klasse aus.«
    »Genau das wollte ich hören, kleiner Bruder.«
    Tim ging. Lynn ließ ihren Avatar weiter modeln und Schmuck anprobieren. Traditionell waren Avatare virtuelle Assistenten, Gestalt gewordene Programme, die das tägliche Leben des vernetzten Menschen organisieren halfen und die Illusion eines Partners schufen, eines Butlers oder eines Spielkameraden. Sie verwalteten Daten, erinnerten an Termine, beschafften Informationen, navigierten durchs Web und machten Vorschläge, die dem Persönlichkeitsprofil ihres Users entgegenkamen. Ihrer Gestaltung waren keine Grenzen gesetzt, wozu auch gehörte, sich virtuell zu klonen, sei es aus purer Selbstverliebtheit oder einfach, um sich den Weg in die Boutiquen zu sparen. Nach fünf Minuten wählte Lynn Mimi Parker an. Der Avatar schrumpfte und fror ein, dafür erschien die Kalifornierin pitschnass und mit einem Handtuch um die Hüften auf der Holowand.
    »Komme gerade aus der Dusche«, sagte sie entschuldigend. »Hast du was Schönes gefunden?«
    »Hier«, sagte Lynn und versandte ein JPEG des Avatars, das im selben Moment auf Parkers Display zu sehen war.
    »Oh, gute Wahl. Steht dir super.«
    »Fein. Ich sag dem Service Bescheid. Gleich kommt einer die Sachen bei dir abholen.«
    »Alles klar. Dann bis später.«
    »Ja, bis später«, lächelte Lynn. »Und danke!«
    Die Projektion verschwand. Zugleich erlosch Lynns Lächeln. Ihr Blick glitt ab. Mit leer gewischter Miene starrte sie vor sich hin und rekapitulierte Julians letzte Bemerkung, bevor sie die Aussichtsterrasse verlassen hatte:
    Ich bin sehr stolz auf dich. Du bist die Größte. Du bist perfekt.
    Perfekt.
    Warum fühlte sie sich dann nicht so? Seine Bewunderung lastete auf ihr wie eine Hypothek auf einem Haus mit glanzvoller Fassade und maroden Leitungen. Seit sie die Suite betreten hatte, war sie wie auf Glas gegangen, als könne der Boden einbrechen. Sie stemmte sich hoch, eilte ins Bad und nahm zwei kleine, grüne Tabletten, die sie mit hastigen Schlucken herunterspülte. Dann überlegte sie es sich und nahm eine dritte.
    Atmen, Körper spüren. Schön in den Bauch atmen.
    Nachdem sie eine Weile ihr Spiegelbild angestarrt hatte, wanderte ihr Blick zu ihren Fingern. Sie umspannten den Rand des Waschbeckens, auf den Handrücken traten die Sehnen hervor. Kurz erwog sie, das Becken aus seiner Verankerung zu brechen, was ihr natürlich nicht gelingen würde, nur dass es sie davon abhalten mochte, loszuschreien.
    Du bist die Größte. Du bist perfekt.
    Leck mich, Julian, dachte sie.
    Im selben Moment durchfuhr sie das Brennen der Scham. Mit klopfendem Herzen ließ sie sich zu Boden fallen und vollführte keuchend dreißig Liegestütze. In der Bar fand sie eine Flasche Champagner und stürzte ein Glas herunter, obwohl sie sonst kaum Alkohol zu sich nahm. Das schwarze Loch, das sich unvermittelt unter ihr aufgetan hatte, begann sich zu schließen. Sie rief den Service an, beorderte ihn zu Mimi Parkers Suite und ging unter die Dusche. Als sie eine Viertelstunde später in Bluse und Hose und mit offenem Haar den Lift betrat, wartete schon Aileen Donoghue darin und sah aus wie erwartet. Von ihren Ohrläppchen baumelten Weihnachtskugeln. Das Big Valley ihres Busens fraß ein Collier.
    »Oh, Lynn, du siehst –« Aileen rang nach Worten. »Guter Gott, was soll ich sagen? Wunderschön! Ach, was bist du für ein schönes Mädchen! Lass dich umarmen. Julian ist zu Recht stolz auf dich.«
    »Danke, Aileen«, lächelte Lynn, halb erdrückt.
    »Und die Haare! Offen stehen sie dir ja noch viel besser. Ich meine, nicht, dass man sie immer offen tragen sollte, aber so betonen sie deine Weiblichkeit. Wenn du nur nicht – oops.«
    »Ja?«
    »Nichts.«
    »Sag schon.«
    »Ach, ihr jungen Dinger seid alle so mager!«
    »Aileen, ich wiege 58 Kilo.«
    »Ja, wirklich?« Eindeutig nicht die Antwort, die Aileen hören wollte. »Also gleich, wenn wir oben sind, mache ich dir erst mal einen Teller. Du musst essen, Kind! Der Mensch muss essen.«
    Lynn sah sie an und stellte sich vor, ihr die Weihnachtskugeln von den Ohren zu reißen. Zipp, zapp, so schnell, dass ihre Ohrläppchen aufgeschlitzt würden und sich Nebel feiner Blutspritzer auf dem spiegelnden Glas der Aufzugkabine

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