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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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gehen, aber es ist spät, die Metro fährt nicht mehr, und er riskiert, stundenlang herumzulaufen, bevor er ein Taxi findet, denn eins zu bestellen ist ganz und gar aussichtslos. Also bleibt er sitzen und trinkt weiter, hört mit wachsender Abgestumpftheit der Freundin zu, die ihm erklärt, alles sei seine Schuld und er behandle Natascha schlecht, das habe sie ihr selbst gesagt. Andere Bewohner des besetzten Hauses setzen sich zu ihnen, darunter ein Tschetschene namens Djellal, der zuallererst wissen will, ob Eduard Jude sei, denn er ist überzeugt, alle in Frankreich, angefangen bei Mitterrand, seien Juden; dann versucht er, ihn in einem erst scherzhaften, doch zunehmend bedrohlichen Ton zu zwingen, ihm seinen Pass auszuhändigen. Die Gefahr ist deutlich spürbar, das Ganze könnte schlecht ausgehen, doch Eduard bleibt cool, oder aber die allgemeine Benommenheit entschärft die Spannung, denn alle sind dabei, in die tumbe Grube des Vollrauschs abzugleiten. Seine letzte Erinnerung ist, so etwas wie ein Gespräch begonnen zu haben zum Thema: »Dieses Land ist genial im Hinblick auf seine Geschichte, aber man wird hier nie ein normales Leben führen. Ein normales Leben, das ist nichts für uns …« Am frühen Morgen wacht er mit der Stirn auf dem Küchentisch auf. Er geht leise durchs Haus, wo Leute schlafend auf dem Boden herumliegen, prüft noch einmal, dass niemand ihm den Pass geklaut hat, zieht seine Schuhe wieder an, die er bei seiner Ankunft ausgezogen hatte, wie man es immer in Russland tut, wenn man eine Wohnung im Winter betritt. Trotz seines Brummschädels ist sein Verstand hellwach, und er hat einen Plan: ins Hotel zurückfahren und seine Tasche holen, Semjonow und seine Runde sitzenlassen, sich zum Bahnhof bringen lassen und den nächsten Zug nach Charkow nehmen.
    3
    Aus der Gewohnheit eines armen Schluckers hat er für diese achtzehnstündige Reise ohne nachzudenken einen Dritte-Klasse-Fahrschein gelöst, und alles in allem bereut er es nicht. Er hat die Rolle des bekannten Schriftstellers abgelegt, um sich unter die Menge von schwerfälligen, armseligen Russen zu mischen, die sich auf den Zugbänken mit ihrem übelriechenden Essen und ihrem Wodka ausbreiten. In dem abteillosen Wagen, wo sich die Liegeplätze über- und hintereinander reihen wie beim Militär, gibt es ein paar versoffene Ganovenrüben und einige so unschuldige, verletzliche Gesichter, dass man weinen möchte. Echte Gesichter auf jeden Fall, da hatte Vitez schon recht: rot, grau oder sogar grüngrau, aber nicht rosa wie die Visagen der Amerikaner. Hinter den schmutzigen Fensterscheiben sieht er die Landschaft vorbeiziehen: Birkenwälder, weißer Schnee, ein schwarzer Himmel, unendliche leere Weiten, die von den kleinen, hin und wieder auftauchenden Bahnhöfen mit Wassertürmen noch betont werden. Sobald sie anhalten, schlagen sich auf den Bahnsteigen alte Weiblein in Filzstiefeln darum, als erste ihre sauren Gurken oder Preiselbeeren zu verkaufen. Da mag er noch so weit gereist sein: Er hat immer nur Städte bewohnt, und er fragt sich, wie es wohl sein mag, in einem solchen Kaff zu leben.
    Der Fahrgast ihm gegenüber liest Top secret . Eduards Foto war letzte Woche darin erschienen, der Reisende könnte ihn wiedererkennen, doch in der Welt, in der er lebt, trifft man nicht auf Leute, deren Fotos in Zeitschriften abgebildet sind. Sie fangen an, miteinander zu plaudern. Der andere erzählt von einem Bericht aus der Rubrik Vermischtes, den er gerade gelesen hat: In einem Dorf wie denen, durch die sie fahren, hat eine Frau ihre zehnjährige Tochter bei minus dreißig Grad draußen angekettet, um sie zu bestrafen, und diese war so erfroren, dass man ihr Arme und Beine amputieren musste. Sobald man das, was von dem Mädchen übriggeblieben war, ein Rumpf, nach Hause gebracht hatte, machte sich der Lebensgefährte der Mutter eiligst daran, sie zu vergewaltigen, und sie brachte einen kleinen Jungen zur Welt, den man wiederum draußen ankettete.
    Nach diesem Start glänzt die Konversation nicht gerade durch Optimismus. Nicht nur, weil alles den Bach runtergeht – eine Diagnose, die Eduard unterschreiben könnte – , sondern weil laut seinem Reisegefährten in diesem Land noch niemals irgendetwas funktioniert hat. Diese Ansicht ist neu. Früher lebte man schlecht und meckerte in seinen Bart hinein, doch im Allgemeinen war man stolz: auf Gagarin, den Sputnik, die Schlagkraft der Armee, die Größe des Reichs, eine gerechtere Gesellschaft als

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