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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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auf, und das Schreckliche ist ihre Belanglosigkeit, die in ihrer Jugend gnädigerweise durch Zensur und Illegalität verborgen geblieben war und jetzt an den Tag kommt. Der erste, der das Wort ergreift, ist offenbar gleichzeitig der einzige, der an eines der 300000 Exemplare von Die Große Epoche herangekommen ist, und er fragt Eduard in strengem Ton, wie diese Apologie des KGB vonseiten eines angeblichen Dissidenten zu verstehen sei. Eduard antwortet trocken, er sei nie ein Dissident gewesen, höchstens ein Delinquent. Eine Frau mittleren Alters sagt mit einem Ausdruck von großer Wichtigkeit und Melancholie, sie habe ihn früher ein wenig gekannt, als sie beide jung waren, und auch wenn er sich nicht mehr an sie erinnere: Sie erinnere sich an einen jungen, genialen Dichter mit langen Haaren und voller Fantasie, und sie wundere sich, einen Typen zurückkehren zu sehen, der einem Komsomolsekretär gleiche.
    Was soll man darauf antworten? Sie reden komplett aneinander vorbei. In der Welt, aus der Eduard kommt, kann ein Künstler seine Haare in kurzem Bürstenschnitt tragen, es ist sogar ratsam, das zu tun, er kann mit einer Hornbrille und ausschließlich schwarzer Kleidung herumlaufen. Er würde eher sterben, als unter einem Sakko mit von Schuppen bestäubtem Kragen einen alten, ausgeleierten Pullover zur Schau zu stellen – das Nonplusultra der Under -Eleganz. Dichter = Wrack, so der Glaube dieser Dame, die es zweifellos lieber sähe, wenn er Wenitschka Jerofejew ähnelte. Apropos Jerofejew, genau über diesen berichtet ein dritter Teilnehmer, der legendäre Autor von Die Reise nach Petuschki habe von der Rückkehr seines früheren Kameraden Limonow erfahren, doch angesichts der Tatsache, dass dieser sich von dem Skandalzeitschriftenhändler Julian Semjonow spon sorn lasse, würde er es ablehnen, ihm die Hand zu reichen, wenn Limonow ihn aufsuche: Was Eduard darüber denke? Eduard antwortet, er denke überhaupt nichts darüber, denn er habe gar nicht vorgehabt, Jerofejew aufzusuchen, und sie seien auch nie Kameraden gewesen. In diesem Ton geht es eine halbe Stunde lang so weiter, und als man die Sitzung beendet, schlägt er die Einladung aus, mit den jungen Mitgliedern des Schriftstellerverbands (»den jungen Mitgliedern des Schriftstellerverbands!«) noch ein Glas trinken zu gehen. Um vier Uhr nachmittags ist es bereits dunkel. Er schlägt den Kragen seiner Potemkin -Matrosenjacke hoch und geht.
    Diese grauenhafte Begegnung hat ihm die Lust genommen, seine alten Freunde aufzusuchen. Wie gut er daran getan hat, sie vor fünfzehn Jahren links liegen gelassen zu haben. Wie sehr sie ihm verübeln, dass er es geschafft hat! Während er an der Westfront um sein Überleben kämpfte, haben sie weiter in ihrem unkomfortablen Komfort geschmort und sich von diesem Bleimantel vor dem bitteren Wissen um ihre Mittelmäßigkeit schützen lassen. Ein Versager zu sein war edel, anonym zu sein war edel, selbst der körperliche Verfall galt als edel. Sie konnten davon träumen, eines Tages frei zu sein und an diesem Tag begrüßt zu werden wie Helden, die heimlich im Untergrund für die künftigen Generationen das Beste der russischen Kultur bewahrt haben. Aber jetzt, da die Freiheit gekommen ist, interessiert sich niemand mehr für sie. Sie stehen nackt da und schlottern in der großen Kälte der Konkurrenz, jetzt haben junge Gangster die Nase vorn wie die Adjunkte von Semjonow, und der einzige Ort, an den die Unders flüchten können, ist der Schriftstellerverband, wo man fortfährt, ein mitleiderregendes menschliches Wrack wie Wenitschka Jerofejew zu verehren und einem lebendigen Typen wie dem abenteuerlichen Limonow zu misstrauen.
    Irgendwann an diesem düsteren Abend betritt er eine Galerie, in der, fast wie Kitsch-Objekte, die Werke von ehemals heimlich produzierenden Künstlern ausgestellt sind, und zu seiner Überraschung erkennt er ein Bild wieder, bei dessen Entstehung er einst seinem alten Boheme-Freund Igor Woroschilow zugesehen hatte: das Portrait einer Frau in rotem Kleid vor einem Fenster. Die Frau war damals Igors Freundin, das Fenster gehörte zu einer Wohnung, die Eduard eine Zeit lang mit beiden teilte. Die Frau war hübsch, inzwischen ist sie wahrscheinlich eine Tonne. Über Igor erfährt er aus dem Katalog, dass er vor zwei Jahren gestorben sei.
    Eduard erkundigt sich nach dem Preis des Bildes. Er ist lächerlich, und in der Tat ist das Bild auch nicht mehr wert, denkt er. Armer Igor. Er hatte sich nicht geirrt

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