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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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die im Westen … Die durch Glasnost entfesselte Meinungsfreiheit hat offenbar dazu geführt, denkt Eduard, einfachen und arglosen Leuten wie seinem Gesprächspartner den Schädel damit zu stopfen, dass erstens alle, die seit 1917 das Land regierten, Sadisten und Mörder gewesen seien, und diese es zweitens in den Zusammenbruch geführt hätten. »Die Wahrheit ist«, beklagt der Typ, »dass wir ein Dritte-Welt-Land sind: ein Obervolta mit atomaren Flugkörpern« – diese Formulierung muss er irgendwo gelesen haben, sie beeindruckt ihn, er benutzt sie immer wieder mit gequälter Selbstgefälligkeit. Siebzig Jahre lang hat man uns eingehämmert, wir seien die Besten, dabei sind wir eigentlich Verlierer. Wsjo proigrali : Wir haben alles verspielt. Siebzig Jahre Mühen und Opfer haben uns dahin gebracht: in eine Scheiße, die uns bis zum Hals steht.
    Die Nacht bricht herein. Eduard kann nicht schlafen. Er denkt an die wenigen Briefe, die er während seiner langen Abwesenheit von seinen Eltern erhalten hat: Neuigkeiten im Jammerton, Gespinste aus Belanglosigkeiten, Klagen, weil ihr einziger Sohn nicht wiederkomme, um ihnen dereinst die Augen zu schließen. Er überflog diese Briefe, ohne sie wirklich zu lesen, weigerte sich, seine Eltern zu bedauern, und dankte Gott, ihn weit weg von ihrem angstbesetzten, verbitterten Leben geführt zu haben. Ein schlechter Sohn? Vielleicht, aber intelligent und also ohne Mitleid. Denn Mitleid verweichlicht, Mitleid entwürdigt, und das Schreckliche ist, dass er seit seiner Ankunft eine Wut in sich spürt, die gleichzeitig von Mitleid durchsetzt ist. Er steht auf, bahnt sich einen Weg durch die zusammengeschnürten Pakete voll armseliger Dinge, mit denen sich die Armen beim Reisen beladen. Auf dem Klo quillt die gefrorene Scheiße über den Schüsselrand. Als er zu seinem Platz zurückkehrt, hört er im Dienstabteil die Kontrolleurin wimmern, während sie von zwei kleinen Gaunern der Reihe nach aufs Kreuz gelegt wird. Die Vorstellung, für sein Land zu leiden, wäre ihm früher grotesk erschienen, und doch leidet er jetzt.
    Der Zug fährt um 7 Uhr morgens ein, und das Taxi setzt ihn in Saltow vor dem kaninchenstallartigen Wohnblock ab, in dem er seine Jugendzeit verbrachte. Seinen Seesack über der Schulter steigt er die Betonstufen hinauf, die nackt sind wie in einem Gefängnis. Vor der Tür zögert er. Wird der Schreck sie nicht umbringen? Sollte er besser einen Nachbarn bitten, sie vorzuwarnen? Egal, er klingelt. Er hört ein Schlurfen von Pantoffeln, das aus der Küche kommen muss. Ohne darauf zu warten, dass man ihm öffnet, ruft er durch die Tür: »Papa, Mama, ich bin’s.« Man scheint ihn nicht gehört zu haben: »Wer ist da?« Die Stimme seiner Mutter klingt argwöhnisch und ängstlich, von draußen kann nichts Gutes kommen. Er spürt, dass ihr Auge am Türspion klebt.
    »Ich bin’s, Mama«, ruft er noch einmal. »Ich bin’s, Editschka.«
    Sie öffnet den oberen Riegel, dann den unteren, danach den in der Mitte, und schließlich stehen sie einander gegenüber. Sein Vater taucht mit den kleinen Schritten eines alten Mannes hinter ihr auf. Sie sind überrascht, aber erstaunlicherweise auch nicht übermäßig: überrascht, wie man es beim Besuch eines Cousins aus der Nachbarstadt sein könnte, der unangekündigt vorbeischaut, aber nicht, als ob ein Sohn auftauche, der vor fünfzehn Jahren gegangen ist und den man nie wiederzusehen glaubte. Sie umarmen ihn, schließen sein Gesicht in ihre Hände, aber gleich darauf schiebt seine Mutter ihn von sich, um ihn mit einem gewissen Abstand von Kopf bis Fuß zu mustern, und sie fragt ihn, wo sein Mantel sei. Er habe keinen Mantel? Das sei doch unmöglich, bei dieser Kälte könne man doch nicht ohne Mantel hinausgehen. Ist er zu arm, um sich einen zu kaufen? »Nein, Mama, wirklich, ich habe alles, was ich brauche, alles ist in Ordnung.« Sie sagt, im Schrank hänge noch einer, ein guter Mantel, den sein Vater nicht mehr trage, und schon stehen sie alle drei vorm Schrank, und er probiert ihnen zuliebe den Mantel, und sie prüfen ihn auf Herz und Nieren, sein Vater sagt, es sei traurig, all diese guten Kleidungsstücke unter diesen Mottenschutzhüllen und diese Wohnung, die sie nach ihrem Tod niemandem hinterlassen können. Ob er nicht zurückkommen und sich hier niederlassen wolle? Es sei ein gutes Leben hier, komfortabel und ruhig. Um ihre Illusionen gleich vom Tisch zu fegen, sagt Eduard, er sei nur für ein paar Tage da. Er erklärt

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