Limonow (German Edition)
ihnen, warum er nach Moskau gekommen ist: wegen seiner VIP -Tournee und seines Buchs mit einer Auflage von 300000 Exemplaren. Er möchte, dass seine Eltern verstehen: Er hat es geschafft, und sie können stolz auf ihn sein; aber nichts von dem, was er erzählt, scheint sie zu interessieren. Es ist zu weit von ihrer Welt entfernt, sie fragen ihn nicht einmal, ob er ihnen ein Exemplar seines Buchs mitgebracht habe. Das trifft sich gut, denn er hat keins dabei, und wenn er eins hätte, würde ihnen das Portrait, das er darin von ihnen zeichnet, nicht besonders gefallen. Das Einzige, was sie wissen wollen, ist, ob er eine Frau habe und ob sie sich Hoffnungen machen dürften, eines Tages Enkel zu bekommen. »Eine Frau ja«, sagt er, ohne das Thema weiter zu vertiefen, »aber Kinder, nein, noch nicht.«
»Noch nicht? Mit sechsundvierzig Jahren?« Raja schüttelt bedauernd den Kopf.
Ihre Neugier ist schnell gestillt, die Alltagsroutine kehrt wieder ein. Wenjamin, der wirklich ein kleiner Greis geworden ist, geht zurück, um sich in seinem Zimmer hinzulegen, wobei er sich an den Möbeln festhält, und Raja erklärt in der Küche bei einer Tasse Tee, er habe letztes Jahr einen Schlaganfall gehabt und seither zu nichts mehr Lust. Sie muss ihn ankleiden und ausziehen, er verlässt kaum noch die Wohnung und sie auch nicht, außer um Einkäufe zu machen: Wo sollte sie auch hingehen? Das Stadtzentrum macht ihr Angst, sie ist froh, nicht dort zu wohnen. »Hier ist es ruhig«, wiederholt sie, als hoffe sie, ihn mit der Zeit doch noch zu überzeugen, sich hier niederzulassen, den alten Mantel seines Vaters überzuziehen und nach seinem Tod den neuen weiterzutragen und mit ihm seine Tschapka aus gewendetem Schaffell. Sie öffnet die Schränke, damit er nicht glaubt, sie lebten schlecht, und zeigt ihm stolz die eingelagerten Vorräte für den Fall einer Lebensmittelknappheit: dreißig Kilo Zucker, Säcke voller Schrot, und im Keller stünden noch einmal soviel.
Eduard stört sich an der ununterbrochen auf dem Herd brennenden blauen Gasflamme. Er will sie ausmachen, aber seine Mutter protestiert: Das hält warm, und außerdem ist dann etwas da, es ist, als sei jemand mit ihr im Raum. »In Paris würde mich das Tausende von Francs kosten«, bemerkt er, und von dem Wenigen, was er über sein Leben im Ausland erzählt, ist es dieses Detail, was sie bei Weitem am meisten verblüfft: »Willst du damit sagen, dass der Staat dort so knauserig ist, dass er euch fürs Gas bezahlen lässt?« Sie kann es nicht fassen, doch dann sagt sie nachdenklich: »Aber Gorbatschow und seine kleinen Besserwisser scheinen bei uns das Gleiche einführen zu wollen …«
Außerhalb der Großstädte und abseits von mehr oder weniger intellektuellen Milieus ist ein Gespräch über Gorbatschow eine sichere Nummer: Es besteht keine Gefahr, dass man sich streitet, jedermann hasst ihn. Dieser Gedanke beruhigt Eduard ein wenig.
Wenn er auf sich hören würde, nähme er noch am selben Abend den Zug zurück, aber das wäre zu grausam. Es ist das erste und zweifellos das letzte Mal, dass er seine Eltern wiedersieht, also beschließt er, ihnen eine Woche zu widmen und diese Woche abzusitzen wie ein Knastbruder, der die abgelaufenen Tage aus dem Kalender ausstreicht. Er hat seine alten Hanteln wiedergefunden und trainiert jeden Morgen eine Stunde lang. Auf seinem Jugendbett liegend liest er lustlos seine Jules Vernes und seine Dumas wieder, stopft sich jeden Tag drei zu schwere Mahlzeiten hinein und zwingt sich zu Gesprächen mit seiner Mutter, denn sein Vater sagt nichts. Mit einer fast atemberaubenden Überfülle von Details erzählt sie von den kleinsten Ereignissen, die ihren Tag ausschmücken. Ellipsen sind ihr fremd. Um zu berichten, dass sie einen Brief abgeholt hat, schildert sie den Weg bis zur Post, die Schlange am Schalter, den Austausch von Grußformeln mit dem Schalterbeamten und die Strecke, die der Bus bei der Heimfahrt zurücklegt. Klar, so langweilt man sich nicht.
Er fragt sie, was aus seinen Jugendfreunden geworden sei. Kostja, die Katze, der zu zehn Jahren Lager verurteilt worden war, wurde einige Tage nach seiner Entlassung bei einer Schlägerei erstochen. Er ist tot, und seine Eltern sterben ihm langsam vor Kummer nach. Kadik dagegen, der Dandy, der davon träumte, Saxophonist zu werden, arbeitet immer noch in der Fabrik »Der Kolben«. Als seine Lydia ihn verließ, übersiedelte er wieder zu seiner Mutter und zog mit ihr seine kleine Tochter
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