Limonow (German Edition)
aufmerksam zuhörend den Kopf. Ja, fährt Eduard fort, sie hätten sich in Paris fürchterlich gestritten, das komme öfter bei ihnen vor, und aus einer plötzlichen Laune heraus sei sie eine Woche vor ihm losgefahren. Sie habe ihn am Abend seiner Ankunft betrunken angerufen und mit einer seltsam entstellten Stimme immer wieder gesagt: »Es ist entsetzlich hier, total entsetzlich.« Seitdem habe er keine Nachricht von ihr. Die einzige Spur, die er habe, um sie wiederzufinden, ist die Nummer ihrer Mutter, doch diese antworte nicht. Er habe keine Adresse von ihr, Nataschas Visum muss schon abgelaufen sein, und sie gehöre nicht zu denen, die sich darum Sorgen machten. Gott wisse, wo sie ist und was sie macht. Sie sei Alkoholikerin und Nymphomanin, es sei furchtbar.
»Lieben Sie sie?«, fragt Vitez mit dem Ton eines Priesters oder eines Psychoanalytikers. Eduard zuckt mit den Schultern: »Sie ist meine Frau.« Vitez schaut ihn mit großer Sympathie an. »Es ist furchtbar«, bestätigt er, »und trotzdem beneide ich Sie. Nach diesem Frühstück werde ich mich in einer Versammlung von Theaterbürokraten langweilen, während Sie sich in die Stadt stürzen werden wie Orpheus auf der Suche nach Eurydike …«
Eduard bahnt sich einen Weg durch die Horde von Halbstarken, die sich schon morgens in der Empfangshalle des Hotels versammelt, er geht hinaus, und da er nicht weiß, wo er mit seiner Suche beginnen soll, geht er einfach der Nase nach und das im Eiltempo, denn ihm ist kalt in seiner Matrosenjacke und seinen ungefütterten Stiefeln. Um die breiten Straßen zu überqueren, steigt er in die Unterführungen hinab, die von dreckigem Wasser überschwemmt und vollgestopft sind mit griesgrämigen Leuten, die sich nicht entschuldigen, wenn sie einem die Pendeltür in die Fresse schlagen, und vor den Kiosken Schlange stehen, wo armselige Dinge wie Meerrettichgläschen, Socken und halbe Kohlköpfe verkauft werden. Eduard hatte diese Stadt, in der er sieben Jahre gelebt hat, nicht dermaßen grau, traurig und unwirtlich in Erinnerung. Außerhalb der Metrostationen, die wahrhafte Paläste sind und weitaus das Schönste, was Moskau zu bieten hat, gibt es nirgends einen Platz, wo man sich hinsetzen, ausruhen und durchatmen kann. Keine Cafés, oder allenfalls in Kellern oder Hinterhöfen versteckt, die man kennen muss, denn nichts ist ausgeschildert, und fragt man einen Passanten nach dem Weg, schaut er einen an, als habe man ihn beleidigt. Die Russen, denkt Eduard, wissen zu sterben, aber in Fragen der Lebenskunst sind sie immer noch die gleichen Flaschen. Er läuft und läuft, streicht um den Nowodewitschi-Friedhof herum und um die Orte seiner Liebeleien mit Elena. Er kommt an dem Hochhaus vorbei, in dem er sich einst in einer Sommernacht die Pulsadern aufgeschnitten hat. Er denkt an Elenas absurden Pudel mit seinen wei ßen Ringellöckchen, die bei Tauwetter schwarz wurden vor Dreck. Es überkommt ihn Lust, Elena in Florenz anzurufen, wo sie mit ihrem italienischen Grafen lebt. Er hat ihre Nummer in seinem Adressbuch, ab und zu telefonieren sie miteinander, aber was würde er ihr sagen? »Ich stehe unten, ich komme dich abholen, mach mir auf«? Genau das müsste er sagen, doch es ist zu spät, und alles andere ist sentimentales Gefasel.
Am Nachmittag wird er im Haus des Schriftstellerverbands erwartet, dessen Schwellen zu überschreiten ihm zwanzig Jahre zuvor so schwer gemacht worden war. Er hat die Einladung angenommen, weil er hoffte, vom süßen Geschmack der Rache kosten zu können, doch dieser Geschmack ist nicht süß: Was ihn erwartet, sind ein Kantinengeruch und drittklassige Dichter, die wie kleine Bürokraten gekleidet sind; am sympathischsten ist noch der alte Drachen, der die Bar führt und ihm Cognac in einer Kaffeetasse ausschenkt. Sie erkennt ihn nicht wieder, dafür er aber sie: Schon zu Zeiten des Arseni Tarkowski-Seminars hat sie hier gearbeitet.
Man führt ihn in einen kleinen Saal, wo ein dünngesätes Publikum auf ihn wartet. Er hatte sich auf Kulturapparatschiks eingestellt und entdeckt verblüfft, dass ausnahmslos Veteranen des Underground erschienen sind. Es sind keine nahen Freunde darunter, aber er erkennt Gesichter wieder, die er damals flüchtig auf Partys oder bei Lyriklesungen gesehen hatte. Komparsengesichter, willenlose, vom Selbsthass zerfressene Gesichter, und wie sie gealtert sind! Fahl oder puterrot, dick und verlebt. Sie sind nicht mehr under , nein, jetzt, da alles erlaubt ist, tauchen sie
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