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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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auf. Dann wurde die kleine Tochter groß und ging fort, und Kadik blieb bei seiner Mutter. Er trinkt zu viel. »Es würde ihn freuen, dich wiederzusehen«, wagt Raja zu behaupten.
    Eduard schüttelt den Kopf.
    Und Anna? »Anna? Mein Gott! Hast du es nicht erfahren? Man hat sie in dem elenden Loch gefunden, in dem sie allein zwischen ihren Aufenthalten in der Psychiatrie wohnte: erhängt.« Sie versuchte zu malen, sie war wirklich sehr dick geworden. Raja ging sie manchmal besuchen. Eines Tages fragte Anna sie nach Eduards Pariser Adresse: »Ich konnte sie ihr nicht verweigern. Hat sie dir geschrieben?« Eduard nickt. Er hat fünf oder sechs Briefe erhalten, die vor düsterem Wahnsinn trieften und auf die er nicht geantwortet hat.
    Der Fernseher läuft ununterbrochen: Das sowjetische Fernsehen, laut Eduard das masochistischste der Welt, lässt seine Litanei von Katastrophen und Gejammer in einem ständigen Fluss von schmalziger Musik baden. Sacharow, Eduards ehemaliges schwa rzes Schaf, ist gerade gestorben, und den Journalisten zufolge beweint ihn das ganze Land bis in die entferntesten Winkel. »Die sind verrückt geworden«, kommentiert Raja, die kaum weiß, wer Sacharow war. »Man könnte glauben, die begraben Stalin.« Ein Redner vergleicht den ehemals Geächteten mit Gandhi, ein anderer mit Einstein, ein dritter mit Martin Luther King, und ein kleiner Witzbold mit Obi-Wan Kenobi aus Star Wars , dem weisen Ratgeber des willensschwachen, zögerlichen Jedi-Ritters, an den Gorbatschow mehr und mehr erinnert. »Und wer wird die Rolle von Darth Vader übernehmen?«, fragt der Interwiewer.
    Der unumgängliche Jewtuschenko schiebt sich vor die Kameras, um ein Gedicht vorzutragen, in dem er den Verstorbenen als »flackernden Docht der Epoche« bezeichnet – eine Metapher, die Eduard zum Kichern bringt und zu einem nur für ihn verständlichen private joke in seinen Idiot -Artikeln wird. Man ist gespannt: Wird Gorbatschow einen nationalen Trauertag ausrufen? Nein, denn das sei so nicht üblich, führt dieser ins Feld: Für den Generalsekretär der Partei sind drei Tage Trauer vorgesehen, für ein Mitglied des Politbüros einer, doch keiner für einen einfachen Akademiker. Die Kommentatoren interpretieren diese Halbherzigkeit als Ankündigung einer plötzlichen Kursänderung nach rechts, was sich am Tag der Beisetzung bestätigt. Gorbatschow begnügt sich mit einem schnell hinter sich gebrachten Moment der Andacht vor den sterblichen Überresten, statt den Kopf des Zuges zu übernehmen, dem mehrere Hunderttausende von Menschen durch Moskau folgen, ohne dass irgendjemand sie dazu gezwungen hätte – ein noch nie dagewesenes Phänomen in der Geschichte des Landes. Ein Abgeordneter, dessen offenherziges und recht sympathisches Schlägergesicht Eduard schon aufgefallen war, Boris Jelzin, packt die Gelegenheit beim Schopf: Er hatte sich bereits als Anführer der Demokraten profiliert, als er lautstark das Politbüro verließ, jetzt ist er es, der hinter Sacharows Sarg neben dessen Witwe, Elena Bonner, herläuft. Jedes Mal, wenn die Kamera sie filmt, ist die alte Krähe dabei, zu rauchen oder eine Zigarette auszudrücken oder sich eine neue anzuzünden. Als Raja bemerkt, dass rund um Bonner und Jelzin Leute Schilder mit einer durchgestrichenen 6 schwenken, fragt sie: »Was sollen diese 6en bedeuten?«
    »Das bedeutet«, erklärt ihr Sohn, »dass sie den Artikel 6 der Verfassung abschaffen wollen, den über die Einheitspartei.«
    »Aber was wollen sie dann?«
    »Naja, dass es mehrere Parteien gibt, wie in Frankreich.«
    Raja schaut ihn entsetzt an. Mehrere Parteien? Das scheint ihr genauso barbarisch wie fürs Gas bezahlen zu lassen.

VI

Vukovar,
Sarajewo,
1991–1992

1
    Sie sitzen eingezwängt vor einer fensterlosen Mauer in einem Winkel, den zwei braune Resopal-Tische vor ihnen bilden. Mehr wird man von der Einrichtung nicht zu sehen bekommen, es kann sich um ein Klassenzimmer, eine Kantine oder eine Amtsstube handeln. Sie trägt einen hellen Mantel und ein bäuerliches Tuch, er einen dunklen Überzieher und einen Schal; auf dem Tisch vor ihm hat er seine Tschapka aus gewendetem Lammfell abgelegt. Sie sehen aus wie ein Rentnerehepaar. Die Kamera weicht nicht von ihnen, die Einstellung bewegt sich ohne ersichtlichen Grund hin und her, es gibt kleine Zooms vor und zurück und kurze Totalen, aber keine Schwenks. Die Männer, die vor ihnen stehen oder sitzen, sieht man nicht. Auch das Gesicht dessen, der im Off mit

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