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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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paar Ideale hat. Wenn in eine solche Stadt eine einzige Ausgabe der Limonka gelangt und diese auch nur einem dieser lustlosen, resig nierten, tätowierten Jungs in die Hände fällt, die auf der Gitarre klampfend unter ihren kostbaren Postern von The Cure oder Che Guevara ihr Bier trinken, ist das Spiel gewonnen. – Sehr schnell waren sie zehn, zwanzig und bald die ganze Horde von finsteren Nichtstuern, die bleich und in zerrissenen schwarzen Jeans auf Plätzen herumhängen, die usual suspects , die übliche Klientel auf den Polizeiwachen. Sie hatten ein neues Passwort, Limonka, und schoben es sich gegenseitig zu. Das war ihr Ding, etwas, das sie ansprach. Und hinter all den Artikeln stand dieser eine Typ, Limonow, dessen Bücher Sachar und seine Freunde fieberhaft zu lesen begannen und den sie zu ihrem Lieblingsautor erklärten und gleichzeitig zu ihrem Helden im wirklichen Leben. Von seinem Alter her hätte er ihr Vater sein können, aber er hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem ihrer Väter. Nichts machte ihm Angst, er hatte das Leben eines Abenteurers geführt, von dem alle Zwanzigjährigen träumen, und er sagte zu ihnen, ich zitiere: »Du bist jung. Es gefällt dir nicht, in diesem Scheißland zu leben. Du hast weder Lust, ein x-beliebiger Popow zu werden, noch so ein Arschloch, das nur ans Geld denkt, noch ein Tschekist. Du hast den Geist der Revolte in dir. Deine Helden sind Jim Morrison, Lenin, Mishima und Baader. Na also: Du bist schon ein Nazbol .«
    Man muss eines wissen, sagt Sachar Prilepin weiter, Limonka und die Nazboly, das war die Gegenkultur von Russland. Und zwar die einzige: Alles andere waren Bluffs, Anwerbeversuche und Ähnliches. Sicher waren auch ein paar Schlägertypen darunter, Leute, die der Militärdienst nervenschwach gemacht hatte, oder Skins mit Wolfshunden, und es törnte sie an, einen Hitlergruß zu machen, um die prilitschni , die anständigen Leute, mal aufzumischen. Aber es gab auch all das, was die Kleinstädte im tiefen Russland an autodidaktischen Comiczeichnern zu bieten hatten, an Rockbassisten, die Komplizen zur Gründung einer Band suchen, Typen, die an Videos herumbasteln, und an Schüchternen, die heimlich Gedichte schreiben, sich nach zu schönen Mädchen verzehren und dunkel davon träumen, die ganze Schule abzuknallen und sich danach selbst in die Luft zu sprengen, so wie man es in Amerika tut. Die Satanisten von Irkutsk, die Hell’s Angels von Wjatka, die Sandinisten von Magadan. »Meine Freunde«, sagt Sachar Prilepin leise, und man spürt deutlich: Selbst wenn er allen Erfolg der Welt haben könnte, Literaturpreise, Übersetzungen, Lesereisen in die USA , was für ihn zählt, ist, seinen Freunden treu zu bleiben, den Gottverlassenen in der russischen Provinz.
    Diese Jungs – am Anfang gab es nur Jungs – waren arm. Wenn sie arbeiteten, dann beluden oder entluden sie irgendwelche Packen, kehrten Höfe, rührten Mörtel an oder überwachten Park plätze, auf denen 4 WD s parkten, die sie mit Schneematsch bespritzten und soviel wert waren wie ein halbes Jahrhundert des Einkommens ihrer Mütter; aus diesen stiegen in ihre Handys grölende Männer, die kaum älter, aber cleverer waren als sie und die sie von ganzem Herzen verachteten. Sachar und seine Freunde waren etwa fünfzehn, als der Kommunismus zusammenbrach. Sie hatten ihre Kindheit in der Sowjetunion verbracht, und sie war besser gewesen als die Zeit danach als Jugendliche und junge Erwachsene. Sie dachten mit Rührung und Nostalgie an die Jahre, da die Dinge einen Sinn hatten, als es nicht viel Geld gab, aber auch nicht viel zum Kaufen, als die Häuser gut instand gehalten wurden und ein kleiner Junge seinen Großvater voller Bewunderung anschauen konnte, weil er der beste Traktorfahrer seiner Kolchose gewesen war. Sie hatten den Abstieg und die Demütigung ihrer Eltern erlebt, die bescheidene Leute, aber stolz auf sich gewesen waren, und die dann in die Armut stürzten und ihren Stolz verloren. Ich glaube, vor allem letzteres ertrugen sie nicht.
    Bald gründeten sich in Krasnojarsk, Ufa und Nischni Nowgorod Sektionen der Nationalbolschewistischen Partei. Eines Tages kam Limonow mit drei oder vier von seinen Leuten. Die ganze Bande ging zum Bahnhof, um sie abzuholen. Sie schliefen zusammen mal bei diesem, mal bei jenem und verbrachten ganze Nächte damit, zu diskutieren und vor allem ihm zuzuhören. Er sprach in einer einfachen, bildhaften Weise, mit der Autorität dessen, der sich sicher sein kann,

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