Limonow (German Edition)
Rote-Armee-Offiziers. Es gab einen großen Tisch, an dem gegessen und das Layout der Limonka gestaltet wurde, eine Tonanlage für Konzerte und am Boden abgewetzte Teppiche, auf denen die jungen Leute aus der Provinz ihre Schlafsäcke ausbreiten und bunt verstreut zwischen gefüllten Aschenbechern und leeren Flaschen in einer deftigen Geruchsmischung aus Mensch und Hund schlafen konnten. Mit der Zeit kamen auch Mädchen dazu, und Sachar bemerkt, dass sie entweder sehr hässlich oder sehr hübsch waren. Die meisten gehörten der Punk- oder Gothic-Szene an. Bei den Jungs herrschten Glatzen vor, aber es gab auch lange Haare, Koteletten und selbst ein paar tadellose Elektrofachverkäufer-Frisuren. Niemand wunderte sich über nichts. Jeder war willkommen und wurde akzeptiert, wie er war, solange er keine Angst vor Schlägen oder vorm Gefängnis hatte.
Am Ende des großen Raums gab es zwei Büros. Das von Dugin war wohnlich, verfügte über einen Heizkörper und war bis zur Decke mit Büchern angefüllt und mit Teppichen und sogar einem Samowar ausgestattet, obgleich er höchstens ein paar Stunden am Tag darin verbrachte. Eduards Büro war deutlich spartanischer, doch nutzte er es häufig als Wohnort. Als Schriftsteller von Rang, dem man in den Szene-Milieus von Moskau und Petersburg einen wahren Kult widmete, kannte er eine Reihe von Künstlern und angesagten Leuten, die eine Zeit lang den Bunker frequentierten, so wie sie in New York Andy Warhols Factory frequentiert hätten. Die Nazboly von der Basis schauten eher schüchtern zu, wie sich berühmte Rocker, Sängerinnen und Models einen Weg durch ihre Schlafsäcke und Wolfshunde bahnten, um den großen Tisch zu erreichen, an dem mein Freund, der Verleger Sascha Iwanow, die anregendsten Abende des vorigen Jahrzehnts verbracht hat, wie er sich erinnert. Man traf dort auf Leute, sagt er, denen man nirgends sonst begegnete: Sie waren jung, originell, ohne Zynismus und hatten vor Begeisterung leuchtende Augen. Ein außergewöhnlich lebendiger Ort.
Die Getreuen von Dugin, faschistische Studenten mit dicken Büchermappen oder antisemitische orthodoxe Priester, besaßen nicht so viel Glamour , ganz im Gegenteil, aber wenn Dugin in Schwung war und sich seines Publikums sicher, kam es vor, dass »der größte russische Philosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« sich dem Kreis zugesellte und seine Zuhörerschaft aus hippen Künstlern und rauen jugendlichen Provinzlern mit schönen Geschichten aus seinem Repertoire betörte: die heldenhaften Opfer der japanischen Kamikaze-Flieger, der Selbstmord von Mishima oder die in der Mongolei durch den Baron Ungern von Sternberg gegründete Sekte von buddhistischen Paramilitärs. Mit seinem schwarzen Bart, seinen buschigen Augenbrauen und seiner warmen Stimme wurde Dugin wieder zu jenem begnadeten Erzähler, in den Limonow sich einst vernarrt hatte. Leider verlor sich sein im Mündlichen so überzeugender Charme, wenn er schrieb. Eduard, der sich praktisch allein um die Limonka kümmerte, wagte jedoch nicht, die trockenen, abstrakten, ellenlangen Artikel abzulehnen, die der Mitgründer und Vordenker der Partei ihm jeden Monat mit einer Feierlichkeit überreichte, als handele es sich um den Heiligen Gral. Dugin schien ehrlich davon überzeugt zu sein, dass seine Machtworte zur Doktrin das Zugpferd der Zeitung waren und der eigentliche Grund für ihre Leser, sich auf sie zu stürzen. Er mochte weder den Ton noch das Aussehen der Limonka . Lieber wäre ihm eine dieser grauen, für einen erlesenen Kreis bestimmten Zeitschriften gewesen, auf die er abonniert war: die Gemeindeblätter der extremen Rechten Europas.
Je mehr Zeit verging, umso größer wurde die Kluft zwischen den Anhängern beider Büros. Als blickten Brahmanen auf Parias herab, so verachteten Dugins Schüler die Horde von Proletariern, die Eduard rekrutierte, diese Freunde des Rock und der Prügelei, denen die glorreiche Geschichte des Faschismus wenig bedeutete und den Sensibleren unter ihnen sogar unangenehm war. Sachar war so ein Fall: Er verabscheute all diese Referenzen auf Freikorps und Angriffstruppen, fand es nicht besonders lustig, wenn Eduard Dugin zärtlich »Doktor Goebbels« nannte, und war eher erleichtert, als dieser im Zuge der sich verschärfenden Auseinandersetzungen schließlich die Partei verließ, um ein Zentrum für geostrategische Studien zu gründen, das heute gut gedeiht und vom Kreml subventioniert wird. Keine Brahmanen mehr: Man fand sich unter
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