Limonow (German Edition)
Glücklicheren unter ihnen nach Serbien geflüchtet sein.
Eduard bleibt zwei Monate lang in dieser bergigen, wilden Gegend. Er beteiligt sich – so sagt er, und ich glaube ihm – an mehreren Guerillaaktionen: Überfälle auf Dörfer, Hinterhalte, Gefechte. Er riskiert sein Leben. Oft habe ich mir beim Schreiben dieses Buches die Frage gestellt, ob er jemanden getötet hat. Ich habe lange nicht gewagt, es ihn zu fragen, und als ich mich endlich dazu durchrang, zuckte er mit den Schultern und antwortete, das sei eine echte Zivilisten-Frage. »Ich habe oft ge schossen. Und ich habe Menschen fallen sehen. War ich es, der sie getroffen hatte? Schwer zu sagen. Der Krieg ist eine unübersichtliche Angelegenheit.« Ich verdächtige ihn nur selten zu lügen, aber an dieser Stelle doch ein wenig. Er wusste, dass ich ein Buch über ihn für eine französische Leserschaft schrieb, das heißt ein tugendhaftes Publikum, das sich leicht empört, und vielleicht zog er es vor, sich nicht einer Sache zu rühmen, die er wohl für sich als bereichernde Erfahrung betrachtet. Einen Menschen im Nahkampf zu töten ist in seiner Philosophie, denke ich, etwas wie sich in den Arsch ficken zu lassen: etwas, das man wenigstens einmal im Leben ausprobiert haben muss. Wenn er es getan hat, was ich nicht weiß, dann stehen die Chancen jedenfalls gut, dass es im Verlauf dieser zwei Monate praktisch ohne Zeugen in der Krajina geschah.
Schließlich kehrt er im Auto eines japanischen Journalisten nach Belgrad zurück. Bei jeder Straßensperre schwört er, keine Waffe bei sich zu tragen – doch in der Tasche versteckt er seine 7.65er als Erinnerung an seine Abenteuer auf dem Balkan; er weiß, dass diese für ihn zu Ende sind. Während des ganzen Aufenthalts hat er immer wieder über den Zuruf von Arkan gegrübelt: »Und, Limonow, hast du deine Revolution in Russland noch nicht gemacht?« Er hat verstanden, dass die Zeit für Kämpfe an Nebenschauplätzen vorbei ist. Es ist Zeit, sich an der wahren Front zu schlagen, nach Moskau zurückzukehren und dort zu siegen oder zu sterben.
VIII
Moskau,
Altai,
1994–2001
1
Parallelen im Leben berühmter Männer, Fortsetzung: Eduard und Solschenizyn verließen ihr Land zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1974, und sie kehren genau zwanzig Jahre später zur gleichen Zeit zurück. Diese zwanzig Jahre hat Solschenizyn hinter Stacheldrahtzäunen verbracht, die zur Abschreckung von Neugierigen sein Anwesen in Vermont säumten, er ging nur hinaus, um Anschuldigungen gegen den Westen vorzubringen, die ihm den Ruf eines alten Streithammels einbrachten, und er schrieb dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr sechzehn Stunden täglich an einem Romanzyklus über die Ursprünge der Revolution von 1917, gegen den sich Krieg und Frieden als schmale psychologische Erzählung im Stil von Adolphe ausnimmt. Nie verließ ihn die Gewissheit, dass er eines Tages und noch zu seinen Lebzeiten in sein Heimatland zurückkehren würde und dass sich dort alles würde verändert haben. Und tatsächlich, die Sowjetunion existiert nicht mehr, und er hat Das rote Rad fertiggestellt: Die Zeit ist reif.
Da er sich der historischen Dimension des Ereignisses bewusst ist, will er nicht wie ein x-beliebiger Emigrant zurückkehren. Nein, er nimmt das Flugzeug bis Wladiwostok und fährt von dort aus mit dem Zug nach Moskau. Mit einem Spezialzug, der für die Reise einen Monat braucht, denn er hält in zahlreichen Dörfern, wo Solschenizyn sich die Klagen des Volks anhört – und all das wird von der BBC gefilmt. Das Ganze gleicht einem Hugo, der von Guernsey zurückkehrt. Und man muss es klar sagen, es gleicht auch Onkel Paul, die große Pflaume , und so löst diese grandiose Rückkehr in Moskau nur Gleichgültigkeit oder Ironie aus: die ewige, unvermeidliche Ironie der Mittelmäßigen angesichts des Genies, aber auch jene der neu angebrochenen Zeiten gegenüber dem Anachronismus, den Solschenizyn verkörpert. Fünf Jahre zuvor hätten sich die Massen auf die Knie geworfen. Damals war gerade Der Archipel Gulag erschienen, und man konnte es nicht fassen, nun das Recht zu haben, es zu lesen. Jetzt kehrt er in eine Welt zurück, in der Literatur nach einigen Jahren der Bulimie niemanden mehr interessiert, vor allem nicht seine. Die Leute haben genug von Konzentrationslagern; die Buchhandlungen verkaufen nur noch internationale Best seller und jene Gebrauchsanweisungen, die die Angelsachsen how-to nennen: Wie verliert man ein paar Kilos, wie wird
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