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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Parias wieder. Sachar war es lieber so.
    3
    In Sankya , seinem Roman über die Nazboly , berichtet Sachar von einem Gespräch zwischen seinem Helden und einem seiner ehemaligen Lehrer, der ihn mag und zu verstehen versucht. Der Lehrer hat aus Neugier einige Ausgaben der Limonka durchgeblättert. Der Name der Partei, ihre Fahne und die Slogans bereiten ihm Bauchschmerzen, aber er ist gewillt, sie als Provokationen in der Nachfolge der von ihm verehrten französischen Surrealisten anzusehen. Die Aktionen der Parteigänger, die darin bestehen, Züge zu taggen, Spruchbänder am Giebel von schwer zu erkletternden Monumenten abzurollen oder bei offiziellen Veranstaltungen dem Gouverneur Tomaten auf die Jacke zu werfen, erscheinen ihm unreif, sympathisch und mutig zugleich. Sympathisch, weil mutig: In Russland scherzt man nicht mit der öffentlichen Ordnung, und diese Pennälerstreiche, die in Westeuropa mit Geldbußen abgetan werden, kosten ihre Erfinder Gefängnisstrafen, die sie mit Stolz absitzen. Mit glühendem und empfindlichem Ernst spricht Sachars Held (und, wie ich annehme, Sachar selbst vor zehn Jahren) von der Heimat, den Leiden des Vaterlands und dem Wesen dieses Heimatlands, und diese Reden beunruhigen den Lehrer. Der Ärger ist niemals weit, sagt er zu seinem ehemaligen Schüler, wenn die Russen beginnen, sich etwas auf ihr Vaterland einzubilden, wenn sie von der Größe ihres Reichs oder der Heiligkeit ihrer Mission sprechen und Dinge sagen wie: »Man sollte nicht versuchen, Russland zu verstehen, man muss daran glauben.« »Es wäre viel besser«, fährt der Lehrer fort, »wenn man die Russen endlich einmal ein normales Leben führen ließe oder ihnen zumindest den Versuch gestattete. Im Moment ist es hart, aber es wird sich schon noch ändern. Zur Zeit gibt es wenige Reiche und viele Arme, aber es wird eine Mittelschicht heranwachsen, die nach nichts anderem strebt als nach Komfort und Schutz vor den Wirrnissen der Geschichte, und das ist das Beste, was diesem Land passieren kann.«
    Nein, Sachars Held denkt nicht, dass dies das Beste sei, was ihm passieren könne. Er will mehr. Er will etwas anderes. »Aber was? Mehr wovon?«, ereifert sich der Lehrer. »Mehr Ordnung? Mehr Unordnung? Wenn man eure Zeitung liest, kratzt man sich am Kopf. Ihr grölt: Sowjetunion! Sowjetunion! Wollt ihr wirklich das? Einen Schritt zurück? Den Kommunismus wiedererrichten?«
    Die Frage ist keine rhetorische: Zu den Präsidentschaftswahlen 1996 stellt sie sich ganz real. Untertrieben gesagt sehen diese Wahlen für Jelzin und die Demokraten schlecht aus. Die desaströsen Auswirkungen der »Schocktherapie« und der ersten Privatisierungswelle haben das Land ins Chaos gestürzt, und die Mehrheit der Bevölkerung bezeichnet das, was seit 1989 passiert ist, als historische Katastrophe – und zwar in einem Ton, als liege das auf der Hand. Jelzin, in den man soviel Hoffnungen gesetzt hatte, scheint nichts mehr im Griff zu haben. Im Kreml verschanzt, ohne andere Gesprächspartner als seine Familie und den für seine Sicherheit Verantwortlichen, eine Art Tonton Macoute namens Korjakow, frönt er dem, was er seine schwarzen Vorstellungen nennt und was ganz offensichtlich eine schwere Depression ist, und betrinkt sich bis jenseits der Vernunft. So nachsichtig die Russen dem Alkoholismus gegenüber auch sind, sie finden es nicht mehr sehr witzig, dass ihr Präsident, sobald er sie auf einem internationalen Gipfel vertritt, sich volllaufen lässt wie ein Schwein. Sie schämen sich nachgerade, ihm zuzusehen, wie er anlässlich der Gedenkfeiern in Berlin zum Sieg von 1945 auf der Tribüne mit dem Kopf hin und her wackelt und dann beginnt, immer vergnügter den Takt mitzuklatschen, um schließlich torkelnd aufzustehen und unter den verstörten Blicken der anderen Staatschefs so zu tun, als dirigiere er die Militärkapelle. Seine Schwankungen zwischen abgrundtiefer Depression und alkoholbedingter Euphorie sind ein guter Nährboden für Anfälle von Kriegslaune, wie man am Beispiel von Kapitän Haddock sehen kann, und nachdem sich die Hardliner in der Kommandozentrale von dem käuflichen Korjakow den psychologisch günstigen Moment weisen lassen, haben sie keine Schwierigkeiten, Jelzin davon zu überzeugen, dass ein kleiner, lebhaft geführter Krieg gegen die »Schwarzärsche« den Nationalisten den Wind aus den Segeln nehmen und ihm seine geschwundene Popularität zurückbringen würde.
    Über die Motive dieser Hardliner vertrat mein Cousin

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